Presseschau

Basler Zeitung vom 06.09.2013

Hühnerhaut bei 22 Grad

Stadtnotizen

Von Denise Muchenberger

«Frierst du?», fragt mich mein Vater. Nein, kalt war mir bei über zwanzig Grad nicht. Aber wieder war sie da, die Hühnerhaut, die mich jeweils im Joggeli heimsucht. Just dann, wenn der Schiedsrichter das Spiel anpfeift und die Muttenzer Kurve loslegt mit ihrem «Konzert», mit «Alli alles gäh für Rot & Blau». Ich ertappe mich dabei, wie mein Blick abschweift, immer wieder, vom Spielfeld zur Kurve wandert und dort haften bleibt. Von unserem Sektor aus, wir sitzen im A2, habe ich einen guten Blick, beobachte fasziniert die Dynamik, die Organisation der Kurve, die mit viel Herzblut das gesamte Stadion musikalisch unterhält. Da ist einmal der Dirigent des Orchesters, der «Capo» der Kurve. Er verpasst vermutlich 90 Prozent des Spiels, weil er – mit dem Rücken zum Spielfeld stehend – die Menge animiert, motiviert, anheizt, neue Lieder anstimmt, sich die Kehle aus dem Hals schreit. Oder die Paukenspieler, die Spiel für Spiel die schweren Trommeln ins Joggeli schleppen und den Takt angeben. Oder die vielen Fahnenschwinger. Ich entdecke einen jungen Mann mit schwarzen Haaren und Sonnenbrille. Er scheint gerade das Fest seines Lebens zu haben. Dass er zum harten Kern der Muttenzer Kurve gehört, glaube ich nicht. Er singt mit, so gut es geht, ballt dabei die Fäuste in der Luft und «gumpt» neben dem Takt mit. Dabei strahlt er wie ein Maikäfer. Ich bekomme Lust, mich neben ihn zu stellen und mitzusingen, mitzufeiern. Als Matias Delgado bei seiner Rückkehr ins Joggeli gegen Luzern von den Fans mit lauten Gesängen begrüsst wurde, lief es mir kalt den Rücken runter. Wie musste es bloss ihm ergehen, auf dem Spielfeld, fragte ich mich – hatte Delgado auch Hühnerhaut?

Oftmals wird negativ über die Muttenzer Kurve berichtet, von Ausschreitungen und Gewaltbereitschaft ist die Rede. Abgesehen davon, dass ich Gewalt – immer und egal in welcher Form sie auftritt – verurteile, finde ich, dass man ruhig einmal die andere Seite beleuchten darf. Die kreative, leidenschaftliche, einfallsreiche Seite der Kurve. Sie tüftelt laufend neue Choreografien, neue Lieder aus – wie kürzlich «Schnäller als dr Bobadilla». Die Fans nähen und beschriften ihre Fahnen selbst, opfern alle Ferientage, um die Mannschaft auch im internationalen Wettbewerb, in ganz Europa, zu unterstützen. Wenn das Spiel vorbei ist, die Fans ihre schweren Trommeln wieder verstauen, die Fahnen einrollen, mit heiserer Stimme das Stadion verlassen, dann denke ich mir manchmal: Jedes Orchester erntet nach einem ­Konzert Applaus. Meiner gilt heute dem FCB-­Orchester, der Muttenzer Kurve, die Spiel für Spiel für diese einmalige ­Stimmung sorgt, unermüdlich, über 90 Minuten lang. Ich möchte diese Stimmung nicht mehr missen. Die Schlagzeilen über gewalttätige Ausschreitungen hingegen schon.

denise.muchenberger@baz.ch

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