Presseschau

Schweiz am Wochenende vom 19.01.2019

Eine Kindheit für den Fussball

Zwei Knirpse beginnen zu kicken wie viele andere. Sie sind gut, und sie opfern ihre Kindheit dem FC Basel und der Verheissung, Profi zu werden. Eine Geschichte von zwei Talenten, deren Wege sich trennten. Von Jakob Weber

Robin, der Techniker

Als Marc Hänggi für seinen fünfjährigen Sohn Robin einen Platz beim SV Muttenz sucht, wird er versetzt: «Wir sind leider schon voll», heisst es. Der Verein, welcher nur 100 Meter hinter dem Haus der Hänggis trainiert, kann Robin nicht aufnehmen. Zu viele Kinder drängen im Jahr 2005 in die Fussballvereine. Weil mit Angelo Santoro ein Kollege von Marc Hänggi die G-Junioren beim SC Dornach trainiert, probieren es Vater und Sohn. Aber auch dort heisst es: «Wir sind leider schon voll.»

Doch Robin hat Glück. Statt direkt nach Hause zu gehen, bleibt er auf dem Fussballplatz. Er jongliert und trickst allein am Spielfeldrand. Als Angelo Santoro den Knirps spielen sieht, erweitert er eigenmächtig die Kapazität der Juniorenabteilung.

Ein halbes Jahr später spielt der SC Dornach an einem Hallenturnier in Laufen gegen den FC Basel. Noch heute kann sich Robin haargenau an das Resultat erinnern. 2:0 für Basel. Doch da die Juniorenteams des FCB normalerweise jeden Dorfverein nach Strich und Faden auseinandernehmen, ist dieses Ergebnis für Robin und Co. ein grosser Erfolg. Nach dem Spiel kommt FCB-Junioren-Trainer Christian Bauer zu Marc Hänggi und seiner Frau Cristina. «Wir wollen den Kleinen haben», sagt er und die Eltern nehmen das Angebot an. Kurz darauf spielt Robin in der U7 des FC Basel. Die Eltern fahren ihren Sohn statt nach Dornach (SO) ins Joggeli zum Training.

Noah, der Schnelle

Zwei Jahre später in Arisdorf (BL). Der kleine Noah nimmt seinen ganzen Mut zusammen. «Kann ich heute bei euch mitspielen?», fragt er? Markus Schweizer, seit Jahren Juniorentrainer beim FC Arisdorf, mustert den Achtjährigen und schüttelt den Kopf. «Fürs Fussballtraining brauchst du das richtige Material. Komm wieder, wenn du Hallenschuhe und Schienbeinschoner dabei hast.» Ohne ein Wort zu sagen, macht Noah kehrt und rennt weg.

«Papi, kauf mir Fussballschuhe», ruft der Junge, als er wenige Minuten später zu Hause ankommt. Weil Noah nicht lockerlässt, fährt Christian Okafor mit seinem Sohn direkt ins nächste Sportgeschäft nach Liestal. Markus Schweizer staunt nicht schlecht. Derselbe Junge, den er eben noch ohne Material weggeschickt hat, steht knapp eine Stunde später mit nigelnagelneuen Hallenschuhen und Schienbeinschonern wieder vor ihm. Beim Abschlussmatch des Trainings darf Noah mitmachen, und dem Trainer klappt die Kinnlade hinunter. «Ich habe vieles gesehen», sagt der 57-Jährige heute. «Doch eine solche Technik und diese Schussgewalt waren einzigartig.» Nach dem Training füllt Noah selber den Anmeldebogen aus und wird Mitglied beim FC Arisdorf.

Markus Schweizer telefoniert anschliessend mit Christian Okafor.
«Noah hat in Arisdorf nichts verloren», sagt er. «Der ist beim FC Basel besser untergebracht.» Dem Vater war das sportliche Talent seines Sohnes zwar aufgefallen, als Noah schon mit acht Monaten laufen konnte oder als er mit zwei Jahren ohne Stützräder Velo fuhr. Doch als Christian seinen Sohn zum ersten Hallenturnier mit dem FC Arisdorf begleitet, versteht er, was der Trainer meinte. Noah lässt die Gleichaltrigen alt aussehen und schiesst Tore ohne Ende. Die nicht gerade erfolgsverwöhnten F-Junioren des FC Arisdorf sammeln plötzlich reihenweise Siege.

Zwar hätte er Noah gern länger bei sich im Team gehabt, trotzdem wählt Markus Schweizer irgendwann die Nummer von Marco Otero. Der heutige Assistent von Murat Yakin beim FC Sion war damals Nachwuchskoordinator beim FC Basel. Beim Freundschaftsspiel gegen den FCB-Partnerverein Concordia Basel im Frühjahr 2009 überzeugt Noah auch die FCB-Verantwortlichen. Das Talent verlässt den Dorfverein nach nur einem halben Jahr und wechselt in die U9 des FCBasel.

Die Freundschaft

Robin und seine Teamkollegen nehmen Noah gut auf. Zuzüge und Abgänge gibt es in den FCB-Juniorenmannschaften jedes halbe Jahr. Spieler, denen es aus Sicht der Trainer nicht mehr reicht, werden aussortiert. Dafür stossen neue Talente zum Team.

In der U9 stehen weder Noah noch Robin auf der Kippe. Die beiden harmonieren auf und neben dem Platz. Als hängende Spitze setzt Robin Goalgetter Noah immer wieder gekonnt in Szene. Zwischen den Trainings spielen sie im Joggeli «Räuber und Poli», und an den seltenen spielfreien Wochenenden besuchen sich die beiden Freunde auch mal bei ihren Familien in Arisdorf oder Muttenz.

Doch spielfreie Wochenenden sind selten. Zehn-, zwölfmal pro Jahr werden sie am Freitagnachmittag von der Schule dispensiert. Dann beginnt die Reise zum Spielort. Am Sonntagabend kehren die Jungs erschöpft heim. Noah und Robin müssen auf Familienfeste oder Einladungen von Freunden verzichten. Der Fussball dominiert ihr Leben und damit auch das der Eltern, die meistens dabei sind. «Es war der Horror, doch er hat sich gelohnt», sagt Christian Okafor heute.

Für die Jungs hat diese Zeit unvergessliche Erinnerungen parat. In der U9 fahren sie für ein Freundschaftsspiel gegen den BVB nach Dortmund und machen eine Tour durch das Westfalenstadion, die grösste Fussball-Arena Deutschlands. In der U10 gewinnen sie im österreichischen Wattens einen Swarovski-Pokal im Wert von 5000 Euro, den sie entgegen der Weisung des Turnierleiters für ein Foto auch ohne Samthandschuhe anfassen. In der U11 spielen Noah und Robin mit dem FCB an einer Mini-EM in Tschechien und Deutschland gegen die besten Juniorenteams Europas, gegen Juventus Turin, Manchester United oder Ajax Amsterdam. In der U12 stehen die beiden im Endspiel eines internationalen Turniers. In Weil am Rhein scheitert der FCB erst im Elfmeterschiessen an Hertha BSC Berlin. Während Robin seinen Strafstoss verwandelt, fühlt sich Noah schlecht, tritt nicht an. Der Druck ist zu gross für den Elfjährigen.

Das Training wird jetzt immer professioneller. Während bis zur U11 zweimal pro Woche trainiert wird, trainieren Robin und Noah mittlerweile dreimal. In den Ferien bekommen die Spieler Trainingspläne mit Ausdauer-, Kraft- und Stabilisationsübungen. Der Druck nimmt zu. Schlechte Leistungen werden mit einem Platz auf der Bank bestraft. Die Trainer reden öfter unter vier Augen mit ihren Spielern. Die Erwartungen an die Junioren und ihre Eltern werden in den halbjährlichen Selektionsgesprächen deutlich gemacht. Wer keinen Fortschritt macht, wird aussortiert. Auch zwischen den Eltern beginnt es langsam zu knistern. Marc Hänggi weiss schon damals: «Ab dem Tag, an dem Robin aussortiert wird, werde ich die anderen Eltern kaum mehr sehen.» Der Kontakt zu Christian Okafor bricht ab, als Noah wegen seiner körperlichen und fussballerischen Entwicklung die U13 überspringt.

Noah schwächelt

Christian Okafor ist sich jetzt sicher: «Wenn sich Noah nicht verletzt, wird er Profi.» Ab der U14 fängt der Stress für die Junioren so richtig an. Die Talente trainieren jeden Tag, dienstags und donnerstags auch vormittags. Damit das reibungslos funktioniert, versucht der FCB, seine Nachwuchskicker in Sportklassen unterzubringen. Noah folgt den Weisungen des Vereins und wechselt die Schule.

Mit 15 Jahren zieht Noah sogar von zu Hause aus und wohnt von nun an im Wohnhaus des FCB im Lehenmattquartier. Der FCB will Noah intensiver beobachten. Dass er nur noch einmal pro Woche und an freien Wochenenden zu Hause in Arisdorf übernachtet, ist für den Teenie vor allem am Anfang komisch. Immerhin fallen für die Eltern jetzt einige Autostunden weg, da Noah Fussball, Wohnung und schulische Ausbildung am selben Ort hat.

Doch gerade als alle Weichen voll auf Profi gestellt sind, rutscht Noah in seine erste Krise. Er wächst in kurzer Zeit sehr schnell, sein Schambein entzündet sich, der Arzt verordnet ein halbes Jahr Pause. Sein Comeback verzögert sich wegen muskulärer Probleme und kleineren Blessuren um weitere drei Monate.

Krafttraining, Regeneration oder gesunde Ernährung spielen für Noah zu diesem Zeitpunkt keine grosse Rolle. In seinem Mülleimer im Wohnhaus findet Nachwuchschef Massimo Ceccaroni regelmässig die Reste von Chips, Kinderschokolade und Haribo. «Probiere doch, an den kleinen Dingen zu arbeiten, die dir keine Freude bereiten», rät er. Zwingen will Ceccaroni ihn wie auch die anderen 110 Junioren im Nachwuchsleistungszentrum aber zu nichts. «Wenn er weiter Cola trinken will, dann trinkt er eben weiter Cola.»

Robin fliegt

Robin geht weder in die Sportklasse, noch verlässt er das Elternhaus. In solchen Fällen strebt der FCB mit Familie und Schule eine Individuallösung an. Robin darf in der Schule in Nebenfächern wie Sport, Musik oder Werken fehlen und während dieser Zeit ins Fussballtraining. Robins Eltern entscheiden sich bewusst gegen die Sportklasse, weil sie ihren Sohn nicht aus dem gewohnten Umfeld reissen wollen. Noch immer ist Robin der Kleinste im Team. Die Wachstumsprognose eines dafür aufgesuchten Arztes lautet: 1 Meter 70.

Seinen Freund Noah sieht er nur noch selten. Neben dem täglichen Training bleibt kaum Zeit, sich privat zu verabreden. In der U14 gehört Robin in der Hinrunde zu den Topskorern. Sein Trainer Beni Huggel lobt ihn: «Ich habe einen beinahe fertigen Fussballer vor mir.»

Dann bricht sich Robin im Winter auf dem Bolzplatz den Arm. Er verpasst in der Rückrunde ein paar Spiele und ist plötzlich aussen vor. Nach siebeneinhalb Jahren FCB findet sich Robin erstmals auf der Ersatzbank wieder.

Marc Hänggi hat ein schlechtes Gefühl und probiert, seinen Sohn auf den Tag X vorzubereiten, doch der nimmt seinen Vater nicht ernst. Zu viel Lob hat er für sein Talent bislang bekommen. Dass Robin plötzlich zu den Spielern gehört, die auf der Kippe stehen, ist er nicht gewohnt. Warum Extraschichten schieben? Warum an den Schwächen arbeiten, wenn doch bislang immer alles von allein lief? Im Frühsommer 2014 werden Robin und Marc zum üblichen Selektionsgespräch eingeladen. Neben Beni Huggel sind die beiden Leiter für den Bereich Kinderfussball, Benjamin Müller und Peter von Rohr, dabei. Im Sitzungszimmer in der Joggeli-Eishalle wird nicht lange um den heissen Brei herumgeredet: «Es tut uns leid, aber es reicht nicht», so die Botschaft. Die Begründung, dass es an der mangelhaften Entwicklung vor allem im Bereich Physis und Defensivverhalten liege, kriegt Robin schon gar nicht mehr richtig mit. Tränen kullern über seine Wangen. Marc Hänggi muss mitansehen, wie der Profi-Traum seines Sohnes platzt.

Die Unterschrift

Mit Noah haben die FCB-Verantwortlichen mehr Geduld. Obwohl er neun Monate nicht spielt, darf er bleiben. Und plötzlich macht es klick. Massimo Ceccaroni findet im Wohnhaus-Mülleimer Bananenschalen und Energieriegelpapier. Noah spielt besser denn je und ist sowohl bei den FCB-Junioren als auch in den Schweizer U-Nationalmannschaften Leistungsträger. Mit 16 unterschreibt er einen Ausbildungsvertrag und verdient erstmals Geld mit Fussball. Christian Okafor muss am Telefon immer öfter nigerianische Offizielle abwimmeln. Sie hoffen, dass Noah eines Tages das Heimatland seines Vaters zur WM führt. Ein Anwalt kümmert sich mittlerweile um die vielen mehr oder weniger seriösen Angebote, denn auch die Okafors wissen, dass das Geschacher um Talente wie Noah immer skrupelloser wird.

Im Januar vergangenen Jahres nimmt der damalige FCB-Trainer Raphael Wicky den 17-Jährigen mit ins Trainingslager nach Marbella. Dort schiesst Noah im Testspiel gegen Tianjin Quanjian ein wunderschönes Tor und macht seine Sache auch sonst so gut, dass Wicky ihn behalten will und der FC Basel ihm direkt einen Profivertrag anbietet. Obwohl er auch zu Manchester City oder United hätte gehen können, unterschreibt Noah beim FCB für zweieinhalb Jahre. «Wenn ich mich hier nicht durchsetze, muss ich es in England gar nicht erst probieren», so Noahs Begründung. Die Premier League soll später einmal folgen. Erst FCB, dann Bundesliga – am liebsten Dortmund – und dann England, so die Karriereplanung.

So überspringt Noah die U21 und gehört nun zum Kader der ersten Mannschaft. Im letzten Saisonspiel gegen Luzern feiert er als linker Aussenstürmer fünf Tage vor dem 18. Geburtstag sein Debüt im St.-Jakob-Park. Er ist der erste FCB-Profi mit Jahrgang 2000.

Im Juli trifft Noah in seinem ersten Spiel in Neuenburg zum 1:0. Mit seinem ersten Profi-Tor ist er endgültig im elitären Kreis angekommen. Sein Leben hat sich innerhalb kürzester Zeit geändert. «Seich machen in der Stadt» liegt nicht mehr drin. Stattdessen hat Noah Medien und Sponsorentermine, muss wegen vieler Begehrlichkeiten die Handynummer wechseln und wird auf der Strasse von Fremden angesprochen. Dafür hat Noah als einer von wenigen FCB-Junioren seinen Traum verwirklicht und ist Profifussballer geworden.

Plötzlich normal

«Robin so enttäuscht zu sehen, hat auch mir sehr wehgetan. Denn ich weiss, wie sensibel er ist», sagt Marc Hänggi heute. Doch trotz allem ist dieser Tag auch eine Erlösung. Die acht Jahre beim FC Basel waren eine intensive Zeit. Der Leistungsdruck, die unzähligen Trainings und Reisen, die ständige Angst vor dem Rauswurf. All das ist vorbei. Weil die Familie keinen Stress mehr will, lehnt sie Angebote aus Genf, Aarau oder Freiburg ab. Robin spielt zwar weiter Fussball, allerdings auf niedrigerem Niveau. Zwei Jahre lang trägt er das Trikot von Congeli. Doch dort vergeht ihm aus unterschiedlichen Gründen die Lust am Spiel.

2016 beendet Robin die Schule und beginnt eine ganz normale Lehre als Chemie- und Pharmatechnologe. Auch wenn sich Robin damit abgefunden hat, dass aus dem Traum vom Profi aller Voraussicht nach nichts wird, spielt Fussball weiterhin eine grosse Rolle in seinem Leben. Er wechselt zum SV Muttenz, wo er in seinem ersten Jahr bei den A-Junioren mit 24 Treffern gleich Torschützenkönig wird. Seit einem halben Jahr kommt Robin als Ergänzungsspieler immer wieder in der 1. Mannschaft in der 2. Liga interregional zum Einsatz. Der SV Muttenz grüsst zur Winterpause von der Tabellenspitze, und Robin könnte im Falle eines Aufstiegs 2019 mit 19 Jahren immerhin 1. Liga spielen. Damit hätte er vielen seiner ehemaligen Kollegen, die beim FC Basel das Fussballspielen lernten, etwas voraus.

Das Wiedersehen

Noah und Robin haben heute keinen Kontakt mehr. Ihr Tagesprogramm ist so unterschiedlich, dass sich die Terminfindung für das Doppelinterview schwierig gestaltet. Zwischen Feierabend von Robin und Führerscheinkurs von Noah finden sich dann doch noch 35 Minuten. Nicht viel Zeit, doch viel zu sagen haben sich die beiden sowieso nicht mehr. Einzig Robins Fotoalbum lässt die Jungs für kurze Zeit in der Erinnerung schwelgen. «Weisst du noch, wie wir 2:0 gegen Bergamo gewonnen haben?» «Ja das war krass.» «Schau, hier haben wir gegen Inter Mailand gespielt.» «Deinen blonden Iro, den vergesse ich nie mehr.» «Kann ich das Fotobuch kopieren?» «Ja, nimm mit.» Die beiden adden sich noch schnell bei Instagram, dann trennen sich die Wege von Robin und Noah. Der eine spielt am Sonntag im Joggeli, der andere überwacht am nächsten Morgen vom PC aus die Temperatur in den Anlagen seiner Firma.

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