Tagesanzeiger vom 15.05.2006
Weihnachtslieder auf dem WC, Bier von oben und von unten, Männer ausser Kontrolle. Die Freinacht der Fans in Zürich.
Von Niels Walter (Text) und Peter Lauth (Bilder)
Zürich. - Man muss aufs WC. Und alle, die müssen, zielen in die Bierbecher, die die Trinkfreudigen in die wasserlosen Urinale gestellt haben - kollektives und johlendes Pinkeln in kleine Pissoirpokale; den grossen Kübel, die echte Meistertrophäe, bringen die Spieler später aus Basel in die Maag-Halle nach Zürich.
In den Toiletten singen sie schon in der Halbzeitpause Weihnachtslieder: «O du fröhliche, o du selige, Gnaden bringender F-C-Z, Keita ist gebo-ho-ren . . . » In der Halle sind die Töne an diesem Samstag weniger besinnlich. Bereits vor dem Anpfiff toben Tausende, aufgepeitscht von einem Radio-24-Mann, der mit dem Mikrofon die Massen dirigiert. F-C-Z! F-C-Z! Olé, olé, olé!
Direktübertragung auf der Grossleinwand. Fussballlegenden und andere geben Interviews, die Fans in der Halle pfeifen oder applaudieren. Karli Odermatt: «Fettsack!» Fritz Künzli: «Yooh Fritz!» Gigi Oeri: «Schlampe!» Sven Hotz: «Sve-heen Ho-otz!» Oeri küsst Hotz: «Wäääh!», «Pfui!», und ein gellendes Pfeifkonzert. «Scheiss FC Basel, oh lolo, Scheiss FC Basel.» Petric, Zubi, Delgado, die Fans der Muttenzer Kurve sowieso - alles «Basler Hurensöhne», nur Züüri ist olé und okay.
Plötzlich kein Fernsehbild mehr
An den Wänden der Maag-Halle hängen A4-Zettel, auf denen «der Stadtklub bittet, keine Fackeln anzuzünden, keine Schäden an Personen und Lokalität zu verursachen», denn «der FCZ will die Halle auch in Zukunft für seine Fans mieten können».
Spielminute 68, volle Bierbecher fliegen gegen die Leinwand. Die Fans sind ausser sich vor Wut, die Leinwand ist grau, kein Satellitensignal. Das Gewitter, sagt der Moderator, man sei daran, das Problem zu lösen; er wird mit Bechern bombardiert. Fünf Minuten später ruft er ins Mikrofon: «2:0 für Zürich!» Die Masse fällt in einen Freudentaumel, Bier spritzt. Eine Minute später sagt der Moderator wie ein geschlagener Hund: «Sorry, eine Falschmeldung, Tor für Basel, 1:1.» Zwei Stehtische fliegen gegen die Bühne, ein Tisch trifft eine Fotografin. Immer noch kein Bild auf der Leinwand, Hunderte haben ihr Handy am Ohr, informieren sich, was in Basel läuft. Nach elf langen Minuten ist das Bild zurück. Die Fans schreien sich den Frust von der Seele, treiben ihren FCZ noch einmal an.
Dann die 93. Minute. Die Erlösung! Das Wunder! Das Tor zum Titel! Gegen Basel! In Basel! In der letzten Sekunde! Zürich ist vom Tod auferstanden. Schlusspfiff, Aufschrei: «Züüri! Meischter, Schwiizer Meischter!»
In der Halle spritzt das Bier von allen Seiten, der Boden ist eine Rutschbahn. Ohrenbetäubend laute Musik und pumpende Bässe halten die taumelnde Masse auf den Beinen. Alle warten auf die Mannschaft, warten und warten und trinken. Draussen giesst es in Strömen. Unter der Hardbrücke tanzen Hunderte, besingen ihren FCZ, der jetzt endlich wieder einmal der Grösste ist. Bei der Strassenbaustelle bleibt nichts, was nicht niet- und nagelfest ist, an seinem Ort. Die Fans haben mit Schildern und Bauabschrankungen die Strassen gesperrt, Baulampen und Besen fliegen herum, da und dort geht Glas in die Brüche.
Die Rückkehr der Gladiatoren
Auf der Langstrasse hupt der Autokorso, wehen die FCZ-Fahnen. Am Hauptbahnhof, wo die Fans aus Basel angekommen sind, tanzen sie auf den Dächern der Kioske und Verpflegungsstände. Hunderte machen sich auf in Richtung Zürich-West, zur Maag-Halle. Da ist alles ausser Kontrolle: Der Moderator sagt alle fünf Minuten, das Meisterteam aus Basel treffe in fünf Minuten ein. Die Massen drücken gegen die Abschrankungen. Die Kinder haben auch schon glücklicher ausgesehen. Die Sicherheitsleute wissen nicht mehr, wen sie abwehren und wen sie retten müssen. Draussen kommt der Mannschaftsbus keinen Zentimeter mehr vorwärts.
Um Mitternacht kommen sie endlich die Treppe herunter: Dzemaili, Schneider, Keita, Nef - alles junge Männer, knapp zwanzig Jahre alt, mit geduschten Haaren und roten Köpfen stehen sie auf der Bühne, sie vorne, ihre jungen Freundinnen hinten. Die glorreichen Rückkehrer aus Basel werden gefeiert und vergöttert, von einem Fanvolk ausser Rand und Band. Männer mit nacktem Oberkörper oder im Meister-T-Shirt stürmen die Bühne. Die ganze Halle hüpft. «Wer nöd gumpet, isch kein Zürcher!»
Die Spieler und ihre Freundinnen flüchten - eine Treppe hinauf in einen schmalen, fensterlosen Gang, wo alle gefangen sind. Niemand weiss, wie weiter und wo raus. Die Sicherheitsleute haben alles verriegelt, sagen, man müsse warten. Ein paar Spieler sind genervt, andere hängen sich erschöpft an ihre Freundin. Torschützenkönig Keita lehnt zufrieden an der Wand, neben ihm der goldene Pokal. Der kleine Mann aus Guinea lächelt zufrieden.