Presseschau

Der Bund vom 09.06.2010

Eine Mark pro Tor von Vater Robert

Ein Tag mit Ottmar Hitzfeld in seiner Heimat Lörrach: Die Begegnung mit Benthaus und das Schwelgen in Erinnerungen. Fredy Wettstein

Es ist purer Zufall. Als Ottmar Hitzfeld an diesem Morgen ins Restaurant Arte in Riehen tritt, sitzt Helmut Benthaus an einem Tisch gleich beim Eingang, er gibt ein Interview für eine Schülerzeitung. «Nein! Ottmar, du!», ist er überrascht; sie lachen und begrüssen sich herzlich. Fast 40 Jahre ist es her, da hatte Ottmar Hitzfeld, 22 war er, ein schüchterner junger Student, der beim FV Lörrach in der 1. Amateurliga spielte, zu Hause zum Telefon gegriffen. «Ottmar Hitzfeld hier!», und er telefonierte mit Helmut Benthaus, Erfolgstrainer damals beim FC Basel, und fragte, ob er zu einem Probetraining kommen dürfe.

Jetzt stehen sie sich im Arte gegenüber, reden kurz von früher und heute, und später sitzt Ottmar Hitzfeld in einer Ecke des Restaurants, nimmt eine grüne Agenda hervor, die Jahreszahl 1962 steht darauf. Das kleine Buch ist museumsreif. Und es zeigt, wie Ottmar Hitzfeld früher schon war und es als Trainer heute immer noch ist: akribisch arbeitend, auf jedes Detail Wert legend.

In der Agenda hat Hitzfeld mit Kugelschreiber alle Spiele eingetragen, vom ersten als C-Jugendspieler bis zum letzten als Profi, am 11. Juni 1983 beim FC Luzern. Datum, Gegner, Resultat, Anzahl Tore, die Hitzfeld jeweils geschossen hat, alles ist zu finden. Auf einer Seite wird bilanziert, 852 Spiele, 758 Tore, er hat als Junior sogar selber Spielberichte verfasst («Wenige Minuten darauf schoss ich durch einen Alleingang das 2:0 sicher in die Maschen»), und wunderbar ist eine Seite am Schluss. Da hat Hitzfeld seinen Verdienst aufgeführt, alles genau zusammengezählt, 30 Mark bekam er als Amateur bei Lörrach für einen Sieg, und sein Vater Robert hat ihm für jedes Tor anfänglich eine Deutsche Mark und später zehn gegeben. «1480 Mark Prämie Vater» steht geschrieben, Hitzfeld junior hat viele Tore geschossen. Ottmar Hitzfeld erzählt davon im Arte, an diesem kalten Tag im Mai 2010. Er hat fast alles noch genau im Kopf.

Der 1. Fussballplatz

Ich bin in Lörrach nur ungefähr 200 Meter vom Fussballplatz des TuS Stetten entfernt aufgewachsen.

Ich erinnere mich gut, wie wir jeweils gleich nach der Schule zum Platz gerannt sind, um hier zu spielen, und wir wurden oft wieder weggejagt, weil es eigentlich verboten war. Aber es hatte eben so schöne grosse Tore, da konnte man gut Schusstraining machen. Wenn es stark regnete, stand der Platz immer sehr schnell unter Wasser, weil der Fluss daneben über die Ufer trat. Und wenn wir fortgejagt wurden, spielten wir eben im Garten unseres Hauses: Die Teppichstangen waren dann die Tore, und oft gingen Scheiben kaputt oder die Blumentöpfe, die damals noch überall aufgestellt waren.

Ich überlegte mir damals, Torhüter zu werden, weil man dann so schöne Goalie-Handschuhe und andere Hosen tragen kann. Aber mein Vater sagte: «Spinnst du, als Goalie kannst du nur verlieren, du hältst ein paar Schüsse, lässt dann aber einen ins Tor, und du bist der Depp. Als Stürmer aber kannst du gewinnen.» Das war für mich einleuchtend, ich wollte fortan nur noch Tore schiessen. Ich erinnere mich auch gut, wie ich bei unseren Familienspaziergängen am Sonntag immer einen Ball mitnahm. Wenn immer möglich, kickte ich ihn dann eine Böschung hinauf, nahm ihn, wenn er runterkam, auf den Fuss und jonglierte ein paar Mal, um den Ball wieder den Hang hochzuschiessen.»

Das 1. Training mit dem FCB

Als ich neun war, nahmen mich meine Brüder zu einem Spiel des FC Basel im Joggeli gegen den Hamburger SV mit. Zum ersten Mal war ich in einem Fussballstadion; ich war ganz aufgeregt. Und nachher war für mich klar: Ich will auch Fussballer werden, und auf diesem Platz will ich einmal spielen. 1971 war es, ich spielte inzwischen beim FV Lörrach, als meine Eltern in den Ferien weilten. Ich nützte das aus, denn sonst hätten sie mich kaum telefonieren lassen.

Die Nummer von Helmut Benthaus fand ich im Telefonbuch. Ich war furchtbar nervös, hatte die Sätze, die ich sagen wollte, auswendig gelernt und meinen Lebenslauf vor mir, alle Tore, die ich für Lörrach und die südbadische Auswahl geschossen hatte, genau notiert. «Ottmar Hitzfeld hier!», sagte ich, als Helmut Benthaus das Telefon abnahm, «ich bin Spieler beim FV Lörrach», und ich fragte ihn, ob ich zu einem Probetraining kommen dürfte, wenn es so was gäbe. Für die Reservemannschaft selbstverständlich, fügte ich noch an. Benthaus sagte: «Okay», doch ich solle, weil sie noch ein paar wichtige Spiele haben, in drei, vier Wochen nochmals anrufen. Das machte ich dann auch.

An einem Montagabend fuhr ich mit meinem VW nach Basel, ich war schon eine Stunde vorher beim Landhof, blieb diskret im Auto und sah all die Spieler in die Kabine laufen. Dann getraute ich mich, auch reinzugehen, ging zu jedem hin, Demarmels, Mundschin, Odermatt und wie sie alle hiessen, stellte mich vor und gab ihnen respektvoll die Hand. Sie staunten, dass da einer kommt, sie siezt und ihnen auch die Hand gibt.

Nach dem Training wollte Benthaus über einen Vertrag reden. Ich entgegnete aber: «So schnell geht das nicht», und ich sagte ihm, mein Bruder Winfried sei Rechtsanwalt und Präsident des FV Lörrach, und ich wolle ihn dabeihaben. Basel zahlte Lörrach dann 15 000 Franken Ablöse, 5000 bekam ich, und mein erstes Monatsgehalt als Amateur beim FCB waren 800 Franken.

Das 1. Tor für den FCB

Am 14. August 1971 spielte ich zum ersten Mal für Basel, ich wurde gegen Grenchen 20 Minuten vor Schluss eingewechselt. Eine Woche später spielten wir in Genf gegen Servette, ich war von Beginn weg dabei. Ich weiss noch genau, es war ein eiskalter Abend, und ich bin um mein Leben gerannt, denn ich wusste, das ist meine grosse Chance. Und schon nach wenigen Minuten gelang mir ein Tor, später noch ein zweites, eines in die kurze Ecke, das zweite in die lange. Es waren schöne Tore. Nachher gab es grosse Schlagzeilen, und ich wusste: Ich hatte es geschafft.

Die 1. Begegnung mit Hoeness

In meinem ersten Jahr mit dem FCB wurden wir gleich Meister, und beim letzten Spiel gegen den FCZ, als wir 4:0 gewannen und ich ein Tor schoss, sass auch Jupp Derwall auf der Tribüne. Er war extra meinetwegen gekommen und bot mich dann für die Olympischen Spiele in München auf. Da kam es auch zur ersten Begegnung mit Uli Hoeness, der dann später, in den vielen gemeinsamen Jahren bei Bayern, zu einem guten Freund wurde. Uli war 1972 mit Deutschland Europameister geworden; er war ein Superstar, fuhr mit seinem Porsche im Trainingslager vor und nachher auch ins Olympische Dorf, obwohl dort sonst niemand reinfahren durfte. Uli spielte dann allerdings schlecht, war meistens Ersatz, mir aber gelangen 5 Tore. Es war ein grossartiges Erlebnis für mich.

Der 1. Präsident.

Oh, der Höfi, der Werner Hofstetter beim SC Zug. Ich wusste ja, was mich erwartete und wie schwierig es mit ihm sein würde. Doch Zug war für mich die grosse Chance, ich musste sie nutzen, wenn ich als Trainer eine Zukunft haben wollte. Zug war in die Nationalliga B aufgestiegen. Wir verpflichteten fünf neue Spieler, und am letzten Tag vor Meisterschaftsbeginn holte Hofstetter nochmals fünf. «Jetzt müssen wir ins A aufsteigen», sagte er. Im ersten Match spielten wir gegen Biel, gegen den Absteiger – 1:1 endete das Spiel. Eigentlich kein schlechtes Resultat, doch Höfi war sauer, sagte: «Da muss man gewinnen.» Das zweite Spiel gegen Mendrisio gewannen wir 2:0, er war wieder sauer, sagte: «Da muss man 4:0 gewinnen», und so ging es weiter. Die Zeit in Zug und mit Hofstetter war meine Doktorarbeit im psychologischen Bereich. Er war der Macher, der Geldgeber, ich der Trainer, stand immer wieder zwischendrin und musste eine Vermittlerrolle spielen. Aber ich wusste, es war wichtig, dieses erste Jahr zu überstehen. Hofstetter trat dann im März als Präsident zurück, wir waren nur Achter, gewannen dann jedoch 10 von den letzten 12 Spielen und stiegen auf.

Die 1. schlaflose Nacht

Schon als Kind, in der C-Jugend, war ich nervös, hatte Lampenfieber und konnte vor einem Spiel nicht schlafen. Später als junger Trainer ebenso. Ich habe mich früh mit mentalem Training befasst, als Student auch eine Arbeit darüber geschrieben. In meinem Kopf spielte sich immer wieder ein ähnliches Ritual ab: Ich habe mir vorgestellt, wie ich Tore schiesse, Flanke von rechts, ich springe hoch, ein Kopfball, Flanke von links, und ich schiesse mit links. Es ist wichtig, dass man eine innere Spannung aufbaut, man ist dann widerstandsfähiger, ist dem Stress besser gewachsen.

Aber schlaflose Nächte habe ich inzwischen nicht mehr. Früher war es für mich als Trainer ein Horror, einem Spieler zu sagen, dass er nicht spielen wird, ich litt dann fürchterlich. Aber es ist wie bei einem Arzt, der dem Patienten eine Diagnose mitteilen muss. Wenn er jedes Mal innerlich total mitfühlt, wird der Arzt selber krank. Auch als Trainer hätte ich so nicht überlebt.

Die 1. deutsche Meisterschaft

Es war ein wahnsinniges Erlebnis, damals 1995 in Dortmund. 32 Jahre war der Klub nicht mehr Deutscher Meister gewesen, 1 Million Leute waren auf der Strasse, unvorstellbar – bei GC vorher waren es vielleicht 200 auf dem Bürkliplatz gewesen (er lacht). Zwei Jahre später gewannen wir in München gegen Juventus auch die Champions League, es war eine Sensation, aber die Emotionen waren nie grösser als bei dieser ersten Meisterschaft in Dortmund.

Die 1. Schweizer Niederlage

Luxemburg! Es war eine riesige Enttäuschung, klar, und die Journalisten sprachen von einer Blamage. Als Trainer muss man aber auch die Leistung des Gegners anerkennen, und die Luxemburger machten an diesem Abend eben das Spiel des Jahres. Ich hatte vorher meine Spieler zwar gewarnt, aber ich muss mir wohl den Vorwurf machen, dass ich zu wenig eingegriffen habe, als die Stimmung locker war, zu locker. Wichtig war, dass ich nachher die Ruhe bewahrt habe, so machte ich es immer bei allen Vereinen. Man muss in einem solchen Moment der Mannschaft trotzdem Vertrauen aussprechen, darf nicht einfach den Stab brechen, wie das viele Trainer als Alibi dann tun.

Die 1. WM

Eine WM ist ein Mega-Event. Bisher war ich erst einmal live bei einer WM dabei: vor vier Jahren in Deutschland als Kommentator für den TV-Sender Premiere. Aber das war locker, ein Vergnügen, ich verlor kein Spiel (lacht) und konnte kritisieren, was ich wollte. Jetzt wird es anders sein, harte Arbeit. Ich habe schon fast alles im Kopf, die Trainingspläne, wie wir reisen, und ich weiss, was uns in Südafrika erwartet. Es wird anders sein als sonst bei einer Weltmeisterschaft, es wird früh dunkel sein, die Nächte sind kalt und lang. Der Teamgeist wird unter solchen Bedingungen noch bedeutungsvoller sein.

Es ist wie bei einem Final in der Champions League: Der Trainer kann sich nur freuen, wenn er als Sieger vom Platz geht. Wir müssen die Achtelfinals erreichen, nur dann ist die Weltmeisterschaft in Südafrika ein Erfolg.

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