Presseschau

Basler Zeitung vom 09.12.1998

«Ich werde das Stadion St. Jakob nie vergessen»

Von Michael Martin

Die Partie FCB-FC Lugano vom Sonntag wird das letzte Fussballspiel im Stadion St. Jakob sein - das Eröffnungsspiel bestritten am 25. April 1954 die Nationalmannschaften der Schweiz und Deutschlands. Für die Gäste erzielte Fritz Walter beim 5:3 zwei Tore - und er erinnert sich.

Basel. «Oben», erinnert sich Fritz Walter, «oben auf dem Bahndamm, da standen die Züge, und die Leute schauten aus den Wagenfenstern heraus ins Stadion runter.»

Unten, auf dem Rasen im Stadion St. Jakob, da spielten die Deutschen gegen Österreich. «Und es war eines der besten Spiele, das je eine deutsche Fussball-Nationalmannschaft gemacht hat. Es war ein Traum», sagt Fritz Walter, angesprochen auf jene Partie vom 30. Juni 1954. Die Deutschen spielten anlässlich der WM in der Schweiz in Basel gegen Österreich um den Einzug in den Final; sie gewannen 6:1, Walter schoss zwei Tore und wurde fünf Tage später in Bern mit einem 3:2 gegen Ungarn als Captain Weltmeister.

«Die Österreicher waren favorisiert in Basel - Hanappi, Happel, Stojaspal, das war eine grosse Mannschaft», und Walter war vier Tage zuvor in Lausanne auf der Tribüne beeindruckter Beobachter, als die Österreicher die Schweizer 7:5 bezwungen hatten. Mehr Zuschauer als zu diesem WM-Halbfinalspiel fanden sich im Stadion St. Jakob nie mehr ein. Die 61'100 (im strömenden Regen) sind Rekord geblieben.
«Weisst du noch - hab' ich später mal zu meiner Frau gesagt, als wir durch Basel gefahren sind...», erzählt Walter, «und sie sagte: Ja, das 3:8 gegen Ungarn. Und ich dachte doch an dieses wunderbare 6:1 gegen Österreich.»
Das 3:8 - es war der 20. Juni 1954, und an diesem Tag wurde die einzig negative Episode geschrieben, die Walter mit Basel in Verbindung bringt. «Sechs Spieler haben gefehlt, die Niederlage gegen die Ungarn war eingeplant - nur dass sie so hoch ausfiel, das hätte nicht sein müssen.»

«Dann ruf den Fritz an»

Fritz Walter ist heute 78 Jahre alt. Doch selbst Details kommen noch wie aus der Pistole geschossen, vergessen hat er nichts. «Mei' Frau sagt immer: Wenn du wissen willst, wer wo und wann gespielt hat - dann ruf den Fritz an.» Der rüstige Ehrenspielführer der deutschen Nationalmannschaft (neben ihm wurde diese Ehre nur Uwe Seeler und Franz Beckenbauer zuteil) weiss, warum ihm die Vergangenheit noch immer nahe steht. «Nach jedem Spiel bin ich im Bett ein paar Stunden wachgelegen, da lief der Film nochmals ab. Ich weiss alles. Auch heute noch: Mei' Frau sagt immer: Das ist ein Rätsel.»
Und so weiss er auch, was am 25. April 1954 in Basel geschah. Fritz Walter war an jenem Tag als Captain der deutschen Nationalmannschaft Gegner der Schweiz im Eröffnungsspiel des damals neuen Stadions St. Jakob. Es resultierte ein 5:3-Erfolg, und Walter, 34jährig, erzielte «zufällig», wie er (schmunzelnd) sagt, zwei Tore: «Eines auf Freistoss und sonst noch eines.» Ebenfalls in der Mannschaft stand Fritz' Bruder Ottmar Walter, natürlich auch vom 1. FC Kaiserslautern, der Heimat der Walters (der Vater war Vereinswirt). Und der «Betze» trägt heute auch den Namen «Fritz-Walter-Stadion».
Logiert haben die Deutschen während der WM 1954 in Spiez, haben sie in Basel gespielt, dann bezogen sie ihr Tagesquartier in Rheinfelden. Und wo immer Walter und seine Mitspieler auch hingekommen seien - «die Schweizer Gastfreundschaft war riesig. Sie wird mir immer in Erinnerung bleiben.» Deutschland litt zu jener Zeit noch unter den Spätwirkungen des Zweiten Weltkriegs, und der Kaffee und die Schokolade, die die Spieler aus dem nördlichen Nachbarland nach den Partien jeweils geschenkt erhielten, waren willkommene Mitbringsel für die Familie. Die Walters waren drei Buben und zwei Mädchen.
«Aber das Grösste», sagt Fritz Walter, «waren jeweils die Schweizer Uhren, die wir an den gemeinsamen Buffets überreicht bekamen.»

Verbunden mit der Schweiz

Das Ehepaar Walter, das am 2. September die goldene Hochzeit feiern konnte, hat es auch später oft durch die Schweiz gezogen; seine Frau Italia stammt aus der Nähe von Cortina d'Ampezzo, «und dann haben wir auf dem Weg in den Süden immer auch bei Minelli halt gemacht.» Mit dem kürzlich verstorbenen Severino Minelli, dem «kräftigen Mann, der auch an den Leibchen zog», hat Fritz Walter lange schriftlichen Kontakt gehabt, auch als Besuche seltener wurden. Aus den Augen heisst bei ihm nicht aus dem Sinn.
In Basel war Fritz Walter öfters mit seinem Freund, dem Weinbauer Franz Keller, dessen Sohn Fritz, «mein Göttibub» (Fritz Walter), heute beim SC Freiburg stellvertretender Vereinsvorsitzender ist. «Wir waren oft im Hotel Euler beim Bahnhof. Da haben wir immer ein gutes Gläschen getrunken. Ja, da liess sich's geniessen.»

Die Zeit als Soldat

Eine beeindruckende Nationalmannschaftskarriere, die erst 37jährig an der WM in Schweden ein verletzungsbedingtes Ende fand, hat Fritz Walter hinter sich; in 61 Länderspielen hat die Nummer 10, die im eigenen wie im gegnerischen Strafraum anzutreffen war, 33 Tore geschossen. Es wären viele mehr geworden, «doch ich war Soldat, vom 22. bis zum 30. Altersjahr. Diese Zeit hätte ich international gerne erlebt. Aber der liebe Gott hat später geholfen. Ich wurde Weltmeister. Ich kann mich nicht beklagen.»
Diesen grössten Triumph, den ein Fussballer in seinem Leben feiern kann, erlebte er im Berner Wankdorf, dort, wo der FC Basel am vergangenen Sonntag 2:1 gegen YB gewonnen und sich für die Finalrunde qualifiziert hat. Walter weiss Bescheid, «ich hab's im gelesen.» Und am Sonntag steigt im ehrwürdigen Stadion St. Jakob die Derniere. «Es tut weh, wenn man die Bilder der veralteten Stadien sieht», sagt Fritz Walter, «vor allem, wenn man das Glück hatte, dort zu spielen und Erfolg zu haben.»
Eines Tages wird die Wankdorf-Ruine dasselbe Schicksal ereilen wie das «Joggeli». Es wird abgerissen und durch ein neues Stadion ersetzt. Die Freude auf eine zeitgemässe Arena ist berechtigt, aber Erinnerungen lassen sich nicht wie eine alte Tribüne dem Erdboden gleichmachen. «Ich werde», sagt Fritz Walter, «Bern und das Stadion St. Jakob nie vergessen - solange ich leben darf.» Und Fritz Walter wird unsterblich sein in der Geschichte des Fussballs und des Stadions St. Jakob.

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