Basler Zeitung vom 25.05.2011
Das Wir-Gefühl ist Teil des Phänomens und der leidenschaftliche Kern viel besser als sein Ruf
Roland Suter*
Sait dr Babbe zu sym Sohn …
Tief im letzten Jahrhundert, als der Kalte Krieg noch tobte, das Frauenstimmrecht in der Schweiz noch eine Vision war und die vier Pilzköpfe aus Liverpool die Hitparaden stürmten, nahm mich mein Vater bei der Hand und führte mich zum ersten Mal ins Joggeli. Mit staunenden Augen sah ich das weite Oval, und mehr als das Spiel faszinierte mich jener Teil des Stadions, wo unzählige rotblaue Fahnen geschwenkt wurden und ein lautstarkes «Nananana nananana hehehe FCB» ertönte. Für mich stand fest: Da will ich auch hin. Ich ging hin und bin bis heute geblieben.
D Kurve isch unser Dehai …
Da stehe ich nun, ich alter Tor, und bin ein Teil jenes Mythos, der von vielen verehrt, von manchen misstrauisch betrachtet und von allen beachtet wird. Ich unterscheide mich nicht von all den Fans in der Kurve; ausser dass ich den Altersdurchschnitt merklich nach oben schnellen lasse und eine antiquiertere Version des rotblauen Trikots trage. Ansonsten singe ich die gleichen Lieder, um die Mannschaft anzufeuern, rege mich über dieselben unberechtigten Schiedsrichterentscheide auf und freue mich im gleichen, glückselig machenden Moment über ein entscheidendes Tor. Ich lasse mich treiben, so wie es Tausende tun, für welche die Kurve ein Daheim ist, wo man sich, wie eine Familie, alle zwei Wochen zu einem fröhlichen Fest trifft.
Es gab eine Zeit, da fühlte ich mich in der Muttenzer Kurve nicht mehr wohl. Denn plötzlich standen da muskelbepackte Hohl- und Glatzköpfe, die rassistische und sexistische Parolen skandierten und dabei Hass verbreiteten. Ich hatte Angst und verzog mich, weg von diesem Pöbel, für ein paar Jahre in Richtung Bahndamm. Zum Glück sind diese Zeiten vorbei. Heute wimmelt es im «D-Parkett» von jungen, aktiven und kreativen Menschen, für welche die Kurve Freiraum und Unabhängigkeit bedeutet und die kritisch genug sind, sich nicht vor den Karren irgendwelcher dubioser Gesinnungstäter spannen zu lassen. Während alles in unserem Alltag mehr und mehr reglementiert und eingeschränkt wird, herrscht in der Kurve der Hauch von Anarchie. Zwar gibt es, wie in jeder anständigen Sippe, ungeschriebene Gesetze, die es einzuhalten gilt, aber daneben herrscht die grosse Freiheit, die jeder auf seine Art nutzt. Es gibt lose und klar strukturierte Gruppierungen, aber auch jede Menge junge und jung gebliebene Einzelmasken, die Teil des Spektakels sind. Es gibt keine Hierarchien und Anführer; man lebt und lässt leben. Keiner wird angepöbelt, auch wenn er den «falschen» Dialekt spricht oder ohne rotblaue Insignien in der Kurve erscheint. Nur eines ist unabdingbare Voraussetzung in der Muttenzer Kurve: Ein Fan steht während 90 Minuten bedingungslos hinter der Mannschaft, im körperlichen wie im übertragenen Sinn.
Alli alles gä …
Das Wir-Gefühl ist ein Teil des Phänomens der Kurve – wir und die Mannschaft, der Club und wir und wir unter uns. Gemeinsam werden, unter der Anleitung des «Capo», Lieder gesungen, zusammen wird im gleichen Rhythmus geklatscht, werden miteinander Erfolge bejubelt und wird kollektiv über Niederlagen getrauert. Es hat sich ein feines Gespür dafür entwickelt, was die Mannschaft, je nach Spielverlauf, benötigt: «Kämpfe Basel kämpfe», wenn es mal nicht gut läuft und «Glaubet nid an Gaischter», wenn das Team begeistert. Aber selbst in den schwersten Momenten hält die Kurve, im Gegensatz zu manchem Matchbesucher auf dem Balkon, vorbehaltlos zur Mannschaft und pfeift keinen Spieler aus oder murrt nach dem dritten Quer- oder Rückpass. Als Gegenleistung wird von den Spielern voller Einsatz verlangt, denn die Kurve merkt sehr genau, wer sich mit dem Club identifiziert und wer nicht. Am liebsten belohnt die Muttenzer Kurve sich, den Club und das Stadion aber mit fantasievollen Choreografien oder Spruchbändern (zum Beispiel nach den Ereignissen von Fukushima: Bengalos statt Brennstäbe), die in tage- und nächtelanger Fronarbeit von unzähligen Fans entwickelt und umgesetzt werden. Wer so etwas je erlebt hat, revidiert sofort sein Bild von der gelangweilten und konsumorientierten Jugend. Diese jungen Menschen sind voll motiviert und legen sich mächtig ins Zeug, wenn es darum geht, kreativ, originell und fantasievoll zu sein. Und das Faszinierende daran ist, dass es dazu keine festen Strukturen und Organisationen braucht. Der Geist der Anarchie schwebt seh- und hörbar über der Kurve, ist aber nicht fassbar und zuzuordnen. Immer wieder entstehen, scheinbar aus dem Nichts, neue Gesänge und ungewöhnliche Anfeuerungsriten. Ein Sprachrohr der Kurve ist zwar der immer wieder aufs neue lesenswerte und vorzüglich verfasste «Schreyhals». Er vermittelt aber auch nur einen Teil der Meinungen und lässt genügend Raum zum Widerspruch und zu kontroversen Diskussionen.
Aber hallo, rufen jetzt ein paar kritische Beobachter, was soll diese Lobhudelei? Die Kurve birgt doch, neben ihrem Einfallsreichtum, auch viel gewaltbereites Potenzial. Ich könnte entgegnen: Wo in unserer Gesellschaft begegnen wir heutzutage keiner Aggression und Gewalt? Und warum sollen ausgerechnet junge Menschen vernünftiger und verständnisvoller sein als wir gestandenen Bürgerinnen und Bürger? Ich erwidere aber bloss, dass verbale Beleidigungen, Drohgebärden, wie wir sie von geschlechtsreifen Primaten kennen, und das Abfackeln von Pyromaterial, auch wenn es mancherorts so behauptet wird, nicht mit Gewalt gleichzusetzen sind und dass, was von aussen nicht einsehbar ist, innerhalb der Kurve eine grosse Selbstregulierung und -kontrolle besteht. Leider lassen sich dadurch rabiate Ausschreitungen nicht vermeiden. Dafür aber die Kurve als ganzes verantwortlich zu machen, ist genauso falsch, wie bei Alkohol- und Gewaltexzessen an der Fasnacht den ganzen Brauch infrage zu stellen. Idioten hat es überall, wo mehr als ein Dutzend Menschen zusammen sind. Ich für meinen Teil mische mich in brenzligen Situationen schlichtend ein oder verweigere mich verbalen Beschimpfungen gegenüber der gegnerischen Mannschaft. Ich habe aber keine Lust, den Moralapostel zu spielen, weil ich der Meinung bin, die Jugend hat Anrecht auf den einen oder anderen Ausrutscher und Verstoss.
Erfolg isch nit alles im Läbe …
Mir kann eine unglückliche oder unnötige Niederlage des FCB ganz gründlich die Laune verderben. Doch es sind ausgerechnet die Fans der Kurve, die in diesen Augenblicken die Initiative ergreifen und nicht destruktiv lamentieren, sondern sich und die Mannschaft mit der Parole trösten, dass Erfolg nicht alles im Leben ist. Genau dann erinnert mich die Muttenzer Kurve wieder einmal daran, dass der Fussball zwar heutzutage eine gigantische, kommerzielle Geldmaschine mit vielen mächtigen und korrupten Despoten ist, der Kern dieses Spiels aber immer ein friedlicher Wettstreit bleibt, bei dem zwei Mannschaften versuchen, einen Ball mit dem Fuss ins Tor des Gegners zu schiessen. Bei diesem Gedanken wird mir warm ums Herz und ich weiss, warum ich überzeugter Anhänger dieses Spiels bin und eingefleischter FCB-Fan, mitten in der kunterbunten, lebensfrohen Muttenzer Kurve.
Ich entfüer di ins Fuessballland …
Zur Jahrtausendwende nahm ich meinen Sohn bei der Hand … Die Geschichte geht weiter.
* Roland Suter ist Kabarettist und Autor. In der Basler Zeitung schreibt er zusammen mit Redaktor Freddy Widmer die Kolumne «suter & widmer».