Presseschau

SonntagsZeitung vom 14.10.2012

Von toller Stimmung zu Nulltoleranz

Pyros, Petarden, Platzinvasionen: Was heute in den Fussballstadien für Empörung sorgt, gehörte früher zur Fankultur

Von Michael Lütscher

Es waren Ausschreitungen, wie man sie in einem Schweizer Stadion noch nie gesehen hatte: Basler Fans warfen während des Spiels Petarden auf den Rasen und in die Luzerner Fans, die nebenan standen. 15 Menschen erlitten Brandverletzungen, der Schiedsrichter drohte, den Match abzubrechen.

Das geschah im April 1995 im Luzerner Allmendstadion. Wer sich den Matchbericht des Schweizer Fernsehens anschaut, staunt über die Gelassenheit, mit der die Geschehnisse im Stadion kommentiert wurden. Die härtesten Sätze von Kommentator Dani Wyler lauten: «Die Situation drohte zu eskalieren» und «leider kam es immer wieder zu solchen Szenen». In einem Nebensatz sagte Wyler: «Es gab Verletzte mit Brandwunden.»

Ganz anders war der Tonfall, als vergleichbare Umstände am 2. Oktober 2011 zum Abbruch des Zürcher Derbys zwischen GC und FCZ führten. «Aus einem Fussballstadion wird plötzlich ein Kriegsschauplatz», erklärte SF-Reporter Dani Kern im «Sportpanorama». Und in der Nachbearbeitung des Ereignisses legte das Fernsehen noch einen Zacken zu: «Petarden, Gewalt, Chaos – der Mob dreht durch.»

«Wir haben vor ein paar Jahren eine klare Haltung definiert: Wir verurteilen Fan-Ausschreitungen», sagt Notker Ledergerber, Programmleiter Sport des Schweizer Radios und Fernsehens. Familien könnten bei gewissen Affichen nicht mehr mit gutem Gewissen ins Stadion gehen, weil sie befürchten müssten, dass Petarden geworfen würden. «Darum wollen wir das Abbrennen von Fackeln, die als Waffe missbraucht werden können, nicht mehr zelebrieren, um Ausschreitungen von Fans nicht indirekt eine Plattform zu geben» sagt Ledergerber.

Feuerwerk zu zünden, war schon damals verboten

Der Wandel wird offensichtlich, wenn man sich weitere ältere SF-Aufnahmen anschaut. Im Frühling 1994 etwa spielte der FC Basel in der Auf-/Abstiegsrunde gegen den FC Zürich um den Wiederaufstieg in die Nationalliga A. 42 000 Zuschauer kamen ins alte Joggeli, und die Muttenzer Kurve zündete allerhand Feuerwerk. «Sieger des Abends waren der Fussballsport und das Basler Publikum», resümierte Kommentator Hans Jucker, während im Bild brennende Fackeln zu sehen waren.

Feuerwerk zu zünden war schon damals gesetzlich verboten. Mit zehntausend und mehr Franken büsste der Fussballverband Uefa jene Clubs, deren Fans bei Europacupspielen Pyro abfackelten. Seit der Saison 1999/2000 wird das Abbrennen von Feuerwerk auch bei Spielen der Schweizer Liga sanktioniert.

Doch zunächst wurde Pyro weiterhin relativ gelassen hingenommen, wie etwa der TV-Bericht vom Zürcher Derby im Herbst 2000 zeigt. Der Spielbeginn verzögerte sich, weil der Letzigrund von den vielen Petarden, die in den beiden Kurven gezündet worden waren, eingenebelt war. «Das Spiel konnte erst mit etwas Verspätung angepfiffen werden», hiess es lapidar im TV-Kommentar.

«Zunächst versuchten die elektronischen Medien wegzuschauen, und das, was nicht sein sollte, einfach auszublenden», stellt Daniel Beck von der Universität Freiburg fest, der sich mit der Abbildung des Sports in den Medien befasst. Zwei Faktoren bewirkten dann, dass sich die Haltung des Fernsehens vom Ausblenden zum Verurteilen wandelte: Die Politisierung und die Kommerzialisierung des Fussballs.

Spätestens mit der Bewerbung der Schweiz für die Austragung der Fussball-EM 2008 wurde der Umgang mit den wilden Fans zum Politikum. Veranstalter Uefa verlangte von der Schweiz Sicherheitsmassnahmen – und diese kosteten Geld. Die Diskussion über den Umgang mit den Fans verlagerte sich von der Fussball- in die Politarena. Nun wurde das Verhalten der Fans thematisiert und dramatisiert.

Hinzu kam die laufende Kommerzialisierung des Fussballs. Die Fernsehrechte werden – für Endrunden, Champions League, Länderspiele und auch für die Ligaspiele – immer teurer. Das Fernsehen muss diese steigenden Kosten rechtfertigen und möglichst gut refinanzieren; es gestaltet die Übertragung der Spiele darum aufwendiger, hofft dadurch, mehr Zuschauer anzuziehen, und bietet mehr Raum für Werbung. Dadurch hat sich aber die Rolle des Fernsehens geändert: Es ist vom Berichterstatter zum Player geworden. «Die elektronischen Medien haben ein Eigeninteresse, dass der Fussball attraktiv bleibt für Sponsoren und Werber», sagt Beck. Und dem hat sich auch die Perspektive der Kommentatoren angepasst.

Christian Schöttli, Sicherheitsbeauftragter der Swiss Football League (SFL) sieht die massiven Ausschreitungen vom 13. Mai 2006 in Basel, als der FC Zürich in letzter Sekunde die Meisterschaft gewann, als Zäsur: «Eine Trendwende in der Berichterstattung der Medien war die Folge.»

Seither ist die Sicherheit bei Fussballspielen zu einem Dauerthema geworden. Das belegt der Nulltoleranzindex – die Verwendung des Begriffs Nulltoleranz: Im Jahre 2000 tauchte er im Zusammenhang mit Fussball erstmals in den Schweizer Medien auf, geäussert von einem Hooliganexperten der Basler Polizei. 2006 fiel das Wort laut Schweizer Mediendatenbank in 15 Artikeln. 2011 war die Nulltoleranz, gefordert etwa vom damaligen GC-Präsidenten Roland Leutwiler wie vom Zürcher Stadtrat Gerold Lauber, in 126 Artikeln Thema.

Dabei «stagniert» seit 2006 die Sicherheitslage, sagt Schöttli. Zumindest für die letzten vier Jahre kann er die Aussage mit einer Statistik unterlegen, die Pyro, Gewalt, Werfen von Gegenständen und Betreten von Spielfeldern umfasst. Ältere Daten gibt es nicht.

«Hooligans sind nicht Fans, sondern Kriminelle»

Sicher ist: Ausschreitungen in Schweizer Stadien gab es schon früher, wie eine Zitatsammlung aus dem damaligen Fachblatt «Sport» in der aktuellen Ausstellung über Fankultur im FCZ-Museum* belegt. Nach dem Cupfinal 1974 etwa, den der FC Sion 3:2 gegen Xamax Neuenburg gewann, warfen Sion-Fans Hunderte von Flaschen auf den Rasen, bevor sie diesen stürmten und die Securitas-Wächter in die Flucht schlugen. «Torsegen – Flaschenregen» titelte halb belustigt, halb empört der «Blick».

Die Printmedien verurteilten dann allerdings früher als das Fernsehen krawallierende Fans scharf: Auf die Ausschreitungen bei Luzern - Basel 1995 folgten Schlagzeilen wie «Die blutige Schlacht» und «Hooligans sind nicht Fans, sondern Kriminelle».

Im Vergleich zu heute beurteilte damals aber die Presse die Ultras differenzierter. Die Ausschreitungen von Luzern wurden in zahlreichen Zeitungen seitenlang diskutiert – darunter auch Fragen, welche die Fans entlasteten: Ob es vielleicht kontraproduktiv gewesen sei, die beiden Fangruppen in «käfigartigen Sektoren» zusammenzupferchen, fragte die LNN. Und die «Basler Zeitung» stellte zur Diskussion, ob die Präsenz von Polizisten in Kampfmontur zwischen den Fangruppen «allzu provokativ» gewesen sei.

* Sonderausstellung «Fankultur – Szenen aus dem Stadion», FCZ-Museum, Zürich, bis März 2013

Zurück