Basler Zeitung vom 13.01.2013
Der Film «Lutstargg» dokumentiert die Fans in der Muttenzerkurve
Von Ueli Mäder
Erfolg ist nicht alles im Leben. Mit diesem Song endet die fast zweistündige DVD «Lutstargg». Fussballfans der Muttenzerkurve dokumentieren, wie sie sich für den FC Basel engagieren.
Wenn die Kurve den langjährigen Platzwart verabschiedet, dann kreiert und inszeniert sie für ihn eine eigene Choreografie. Diese spezielle Kunst ist vom Theater bekannt. Die Kurve tritt dabei als Autorin, Regisseurin und Darstellerin auf. Sie installiert selbst bemalte Tücher zu einer Figur und lässt diese, überdimensioniert und mit Songs kombiniert, im Stadion tanzen. Einst schwebte sogar ein selbst gebastelter Helikopter über den Rängen, der die militärische Überwachung der Fussballfans imitierte und kritisierte.
Der Aufwand für solche Choreos ist beträchtlich, das Erlebnis emotional oft überwältigend und einzigartig. Wie der «GROSSe» Dank an einen scheidenden Trainer oder Spieler. Die Kurve nimmt mit ihren Choreos Unstimmigkeiten stimmig auf. Sie spricht «feine Unterschiede» an, manchmal überzeichnet, manchmal differenziert. Sie tut dies, ohne Widersprüche einfach zu glätten. Diese gehören zum Leben – und zum Fussball sowieso.
Diesen Petric wollen wir nicht
Die Kurve präsentiert sich als vielfältige Einheit, die dem FCB zum Sieg verhilft. Sie tut dies mit starker, ausdauernder Präsenz und mit teilweise witzigen Sprechchören, begleitet von tänzelndem Hüpfen oder Gumpen mit rhythmischem Klatschen. So entstehen Wärme und ein Zusammenhalt, der dem FCB viel Rückhalt verleiht und Gegner anstachelt oder einschüchtert. Die zelebrierte Rivalität gehört offenbar zum Spiel. Sie reproduziert gängige Mechanismen der Konkurrenz – manchmal spielerisch, manchmal borniert.
«Wir wollten diesen Petric nie», skandierte die Kurve 2004. Die Club- Identität ist ihr wichtiger ist als der Erfolg, den dieser Superspieler von den Zürcher Grasshoppers bringt. Zudem fördert der Ausschluss die eigene Integration. Die Kurve kennt das von der Ausgrenzung, die sie selbst erlebt und immer wieder problematisiert. Wobei sie, im Film leise angedeutet, durchaus reflektiert, wie sie die beklagte Stigmatisierung manchmal selbst provoziert und gegenüber andern mehr oder weniger streng praktiziert. «Wie im Delirium» feierte die Kurve ein entscheidendes Tor von Petric, bevor er in die Bundesliga wechselte.
Fanarbeit wirkt zuweilen suspekt
Die Kurve will möglichst autonom sein: «weg von Repression und Kommerz». Sie wehrt sich dagegen, vereinnahmt zu werden. Wohlwollend und leicht distanziert ist selbst das Verhältnis zu den Fanarbeitern, die von unschätzbarem Wert sind. Ihre direkte Unterstützung ist willkommen, ihre Vermittlung gegenüber Club, Polizei und Behörden etwas weniger. Sie wirkt zuweilen etwas suspekt. Die Kurve hält ihre eigene «Selbstregulierung» hoch. Das klingt neoliberal, ist aber anders gemeint. Besonders seit den Ausschreitungen vom 13. Mai 2006. Sie bilden eine Zäsur. Davon zeugen Aussagen wie «vorher haben wir oft Grenzen überschritten» und «das Ausmass der Gewalt muss allen zu denken geben»; oder «seither setzen wir auch die Pyrotechnik bewusster ein». Diese steht in der Kurve für Freude, Autonomie und Widerstand. Ja, Widerstand; zum Beispiel gegen das Hooligan-Gesetz, das selektiv mit dem Datenschutz umgeht und den Besitz von Pyros als Gewalt deklariert.
Fussball gehört allen
Mit einem Boykott wandte sich die Kurve erfolgreich gegen höhere Eintrittspreise im Zürcher Stadion. «Fussball gehört allen!» Sie setzte sich auch entscheidend dafür ein, den Basler Landhof zu erhalten. Die Kurve sammelte Tausende von Unterschriften und veranstaltete während der Museumsnacht ein künstlerisch ansprechendes Happening. Der Abstand, den sie dabei zu allen Parteien und zur offiziellen Politik hält, ist – zumindest indirekt – auch eine politische Haltung.
Beim Auswärtsspiel in Bremen appellierte Angela Merkel vergeblich an die Vernunft der Kurve. Als die Bundeskanzlerin gerade an einer Wahlveranstaltung sprach, gesellten sich Fans aus der Kurve dazu und machten sich dann respektlos so lautstark bemerkbar, dass nur noch sie, die Kurve, als Teil der Zivilgesellschaft zu hören war. «Was zählt, sind Emotionen!»
Wenn schon, orientiert sich die Kurve lieber an Antihelden. Im Film karikiert sie auch Fussball-Oldies, die sich selbst auf die Schulter klopfen und ihre Verdienste für die «Fussball-Hauptstadt Basel» nostalgisch würdigen. Die Kurve hebt lieber selbst kritische Persönlichkeiten wie Ivan Ergic hervor. Er symbolisiert, was die Kurve im letzten Song im Film intoniert: «Erfolg isch ned alles im Läbe.»
www.muttenzerkurve.ch
Ueli Mäder ist Ordinarius für Soziologie an der Universität Basel