Schweizer Familie vom 12.02.2015
Fussball wird zur Wissenschaft. Dank neuer Technologie wissen die Trainer alles über die physische Verfassung ihrer Spieler. Das beeinflusst Aufstellung und Taktik. Auch beim FC Basel, der nächste Woche in der Champions League gegen Porto spielt.
Text Benno Tuchschmid
Marbella, Mitte Januar. Die Spieler des FC Basel haben gerade das Training beendet. Assistenztrainer Nacho Torreno sitzt an einem Tisch neben dem Platz und blickt konzentriert in seinen Laptop. Die Kurven und Tabellen zeigen ihm den genauen Formstand seines Teams auf. «Nach einer Trainingseinheit wissen wir von jedem Spieler, wie viel er gelaufen ist, wie schnell er gelaufen ist und ob er an seine Leistungsgrenze ging», sagt Torreno.
Am nächsten Mittwoch tritt der FCB im Champions-League-Achtelfinal gegen den FC Porto an. In der Vorbereitung auf das Spiel setzen die Basler auch auf High-tech. Die Spieler tragen GPS-Westen, die via Satellit alle Bewegungen auf Torrenos Laptop übermitteln. Sensoren messen ihre Herzfrequenz. Jeder Herzschlag, jeder Sprint wird gespeichert. Captain Marco Streller und Co. können vor ihren Trainern nichts verheimlichen. Und nach dem Training geht die Überwachung weiter. In der Nacht messen Sensoren auf der Brust den Schlaf, zur Kontrolle der Regeneration. «Wir wollen alle Bereiche kontrollieren, die sich kontrollieren lassen», sagt Nacho Torreno. Die Trainer wollen, dass nur Spieler in bester körperlicher Verfassung auf dem Platz stehen. Die Daten sind nicht blosse Spielerei. Unter FCB-Trainer Paulo Sousa und seinem Assistenten Torreno beeinflussen sie direkt die Aufstellung. Ein Beispiel: Ende September traf FCB-Jungstar Breel Embolo im Cup gegen Winterthur dreimal. Im Meisterschafts-spiel zwei Tage danach fand er sich trotzdem auf der Ersatzbank wieder. Die High-tech-Systeme hatten aufgezeigt, dass sich Embolo nicht genügend erholt hatte.
Ein Milliardengeschäft
Der FCB gibt jährlich über hunderttausend Franken für die Anschaffung und Lizenzgebühren der Geräte aus, für Bedienung und Wartung ist eigens ein Spezialist angestellt. Doch im internationalen Vergleich ist das bescheiden. Der Einsatz technologischer Mittel ist im europäischen Spitzenfussball in den letzten Jahren explodiert. Top-Clubs haben eigene Abteilungen mit Computerwissenschaftlern, Analysten und Sportphysiologen aufgebaut. Der FC Liverpool, den die Basler im Dezember aus der Champions League warfen, beschäftigt 13 Mitarbeiter, die sich nur um Sportmedizin und Sportwissenschaft kümmern. Die Entwicklung begann in Sportarten wie Football und Baseball in den USA. Jetzt hat sie den europäischen Fussball erreicht. Mittlerweile gibt es zahlreiche Anbieter, welche die Vereine mit der neuesten Technologie beliefern. Dabei geht es um viel Geld: 2013 beliefen sich die Einnahmen im Fussballgeschäft weltweit auf über 35 Milliarden US-Dollar. Tendenz: stark steigend. Zu viel Geld, als dass sich die Clubs allein auf das Bauchgefühl von alten Trainerfüchsen wie Otto Rehhagel verlassen wollen.
Die neuen Technologien machen die Profis immer schneller, ausdauernder und spritziger. Das bestätigt Markus Tschopp, der beim Bundesamt für Sport (Baspo) die Abteilung Sportphysiologie, Kraft und Spielsport leitet und zum Team der Fussball-Nationalmannschaft gehört: «Heute sind die physischen Anforderungen, um den Sprung in die Nationalmannschaft zu schaffen, deutlich höher als für die letzte Spielergeneration.» Die Messgeräte erlauben es, bei jedem Spieler Schwachstellen auszumachen und dann das Training individuell anzupassen. Entsprechend verbesserten sich die Leistungen: 1954 lief ein Spitzenfussballer pro Spiel etwa 4 Kilometer. Heute sind es bis zu 14 Kilometer. Auch die Intensität ist stark gestiegen: Die Distanz, die ein Fussballprofi während eines Spiels im Sprint zurücklegt, ist heute ein Drittel länger als 1990.
Manche Spieler standen den neuen Methoden anfänglich skeptisch gegenüber. Vor einigen Jahren führten die medizinischen Betreuer der Schweizer Nationalmannschaft zum Beispiel sogenannte Regenerationsgetränke ein. Mittelfeldhaudegen Valon Behrami zeigte sich bockig und wollte zunächst nichts von den wenig appetitlichen, eiweisshaltigen Shakes wissen. Heute nutzt Behrami die Getränke auch in seinem Club HSV.
GPS-Geräte und Pulssender haben dafür gesorgt, dass die Fussballer heute so athletisch sind wie nie zuvor. Doch die Entwicklung geht rasant weiter. Nun wollen Wissenschaftler auch die Taktik des Sports revolutionieren. Computerspezialisten sind daran, mit Hilfe von Algorithmen das Geheimnis des Fussballs zu entschlüsseln. Und die Schweiz mischt an vorderster Front mit. So forscht Martin Rumo, Computerwissenschaftler beim Bundesamt für Sport, an Erweiterungen zu einem neuartigen Lokalisierungssystem, bei dem die Spieler Sender auf sich tragen, dank denen sich am Computer jede Spielsituation auf dem Rasen im Detail analysieren lässt. «Wir können damit sogar das Blickfeld der Spieler abbilden», sagt Martin Rumo. Der Schweizer Fussballverband (SFV) hat gemeinsam mit dem Baspo eine Arbeitsgruppe gebildet, in der Nachwuchsnationaltrainer, Sportwissenschaftler und Computerspezialisten gemeinsam Applikationen für das System entwickeln. Markus Tschopp sieht bereits konkrete Anwendungen: Ein wichtiges Element im modernen Fussball sei die schnelle Angriffsauslösung. «Mit diesem Programm können wir einem Spieler am Bildschirm aufzeigen, welchen Pass er gespielt hat – und welche besseren Optionen er gehabt hätte.»
Die wissenschaftliche Entwicklung ist rasant. Jedes Jahr publizieren Forscher gegen tausend Untersuchungen, die sich mit Fussball beschäftigen. Top-Clubs wie Manchester City laden Spezialisten aus der ganzen Welt ein, um neue Anwendungen der Datenanalyse zu erarbeiten, zu ihnen gehört auch Martin Rumo.
Sammelwut birgt Gefahren
Noch tragen die Spieler bloss im Training Sender. Die Fifa verbietet das Tragen während des Spiels. Doch spezialisierte Firmen betreiben Kamera-basierte Systeme, welche die Leistungen der Profis auch in den Ernstkämpfen vermessen. Jeder Pass, jeder Zweikampf wird registriert und gespeichert. Bis zu 2000 Datensätze pro Spiel. Unter privaten Firmen ist eine wahre Sammelwut ausgebrochen. Abnehmer sind TV-Stationen – aber auch Clubs. Denn aus den Daten lassen sich die Schwächen des Gegners herauslesen.
So untersuchte Markus Tschopp an der WM in Brasilien vor dem Spiel der Schweiz gegen Argentinien, wie viele Kilometer die Gauchos pro Spiel abspulten. «Die Daten waren nicht sehr beeindruckend.» Deshalb setzten die Nati-Verantwortlichen um Trainer Ottmar Hitzfeld darauf, die Argentinier mit einem hohen Tempo zum Laufen zu zwingen. Die Analyse nach dem Spiel gab Tschopp recht. Die Werte der Schweizer waren besser als jene der Argentinier. Alle Werte, bis auf den entscheidenden: das Torverhältnis.
Die neuen Technologien bergen auch Gefahren. Denn Verbände und Clubs speichern in ihren Datenbanken unter anderem medizinische Informationen über die Spieler. «Das ist sehr heikel», sagt Cuno Wetzel, Verbandsarzt beim SFV. Auch der Fussballverband arbeitet am Aufbau eines webbasierten Registers, in dem die medizinische Geschichte jedes SFV-Spielers verzeichnet ist. «Doch diese Daten gehören den Spielern und werden wenn, dann nur mit dem Einverständnis des Fussballers weitergegeben», sagt der Arzt. Schliesslich kann die medizinische Akte über einen Transfer entscheiden. Schon heute haben die neuen Technolo-gien das Transfergeschäft «revolutioniert», wie FCB-Sportdirektor Georg Heitz sagt. Heitz ist bei den Baslern zuständig für Transfers. Er hat Zugang zu gigantischen Datenbanken, in denen jeder Spieler fast aller Profi-Ligen der Welt verzeichnet ist. Interessiert sich Georg Heitz für einen Stürmer, kann er alle relevanten Daten abfragen: wie viele Pässe pro Spiel, welche Laufdistanz usw. Mit ein paar Klicks kann er auch sämtliche Kopfballtore des Stürmers auf Video abrufen. «Passen die Daten nicht zu uns, kommt eine Verpflichtung nicht in Frage», sagt Georg Heitz. Doch wenn ein Spieler das Interesse des FCB geweckt hat, setzt der Club noch immer Spielerbeobachter ein. Wieso? Heitz nennt ein Beispiel. Der FCB habe sich einmal für einen Stürmer interessiert. Torgefährlich, kopfballstark, «ein wunderbarer Spieler». Doch bei einer Beobachtung vor Ort fiel dem FCB-Scout auf, dass der Stürmer beim Einlaufen die Schnürsenkel offen hatte. «Wir haben den Transfer abgebrochen», sagt Heitz. Der Grund: Die offenen Schuhbändel deuteten auf Schlendrian hin.
Nicht alle Trainer trauen den neuen Möglichkeiten der Technik. Unter Insidern ist bekannt, dass es internationale Top-Coaches gibt, die nicht daran glauben. Namen nennen will aber niemand. Nacho Torreno und FCB-Cheftrainer Paulo Sousa sind technologiebegeistert. Dennoch schränkt Torreno ein: «Man darf nicht zum Sklaven der Technik werden.» Wenn der FC Basel am nächsten Mittwoch gegen den FC Porto antritt, dann haben zwar auch Sensoren und Algorithmen mitgeholfen, die Mannschaft vorzubereiten. Auf dem Platz stehen aber immer noch Fussballer aus Fleisch und Blut. Und wahrscheinlich wird es im Spiel Überraschungen geben, die kein Computer voraussehen konnte. Sportchef Georg Heitz meint: «Der Code des Fussballs ist noch nicht geknackt – und wird es wahrscheinlich auch nie werden.»