Basler Zeitung vom 08.05.2015
Marco Streller ist ein fröhlicher Bub mit Vorliebe fürs runde Leder – von seinen Eltern hat er nicht nur die Geselligkeit, sondern auch die Ängstlichkeit geerbt, die ihn noch heute begleitet
Von Oliver Gut
Basel. Desirée Streller denkt nach. Dann wendet sie sich an ihre Tochter, weil ihr nichts in den Sinn kommt. «Elin, wann ist Papi streng zu dir und deinem Bruder?», fragt Marco Strellers Frau. Die Vierjährige kommt auch ins Grübeln. Dann ist durch den Telefonhörer deutlich zu vernehmen: «Papi ist streng, wenn wir streiten.»
Die Mutter gibt der Tochter nicht nur recht. Sie findet, dass auch sie dann klar interveniere. Aber Desirée Streller bestätigt: «Ja, wenn Marco streng ist, dann wohl in diesen Momenten. Nur fühlt er sich dann schnell schlecht dabei.» Schimpfen, streng und konsequent sein, das sei nicht die Stärke ihres Mannes. «Er ist derjenige, der mit den Kindern liebevoll spielt, wenn er da ist. Derjenige, der mehr durchgehen lässt.»
Dass Marco Streller vor allem dann lauter wird, wenn sich seine Tochter Elin und sein sechsjähriger Sohn Sean streiten, passt zu seinem Wesen. «Soweit ich weiss, habe ich in meinem Leben nie jemanden geschlagen. Das war mir immer zuwider», erinnert sich Streller an die eigene Kindheit. Er sei vielmehr derjenige gewesen, der sich eingemischt und geschlichtet habe, wenn sich zwei stritten.
All das entspricht dem Bild, das so viele Menschen von der öffentlichen Person Marco Streller haben. Dass er niemandem wirklich böse sein kann, Harmonie anstrebt und als Brückenbauer vermittelt, ist Teil dessen, was ihn für den FC Basel, die Stadt und die Region so gross hat werden lassen.
Frühe Vorzeichen
Marco Strellers Heimatort ist Binningen. Aufgewachsen ist er in Aesch. Erst im «Blauen», dann ab dem Kindergartenalter «Im Sunnefäld 7». Seine Eltern Ruth und Thomas Streller wohnen noch immer im schmucken Einfamilienhaus von damals. Der Empfang ist herzlich, das «Du» wird beim Händedruck angeboten. Berührungsängste, die dem Sohn fremd sind, kennen auch seine Eltern nicht. Dies, obwohl die gelernte Verkäuferin und der gelernte Gastronom all die Jahre im Umgang mit den Medien Vorsicht gelehrt haben.
Die Fotos aus Marco Strellers Kindheit sind bereits sauber nach Themen auf dem Tisch sortiert. Sie zeigen den Filius in der Schule, an der Fasnacht – und immer wieder mit seinem Lieblingsspielzeug, dem Ball. Ruth Streller erzählt: «Marco war 13 Monate, als wir nach Mallorca flogen. Als er bei der Landung aus dem Fenster den Vollmond sah, rief er aufgeregt: ‹Balli! Balli!›»
Es ist eine passende Episode. Und nicht die einzige: Das Kind, das zur Ikone des FC Basel wird, erblickt am 18. Juni 1981 um 14.30 Uhr im Bethesda-Spital das Licht der Welt – und damit quasi beim Joggeli. Schon vorher, als beim Ultraschall klar ist, dass da ein Bub heranreift, macht der Arzt den Spruch: «Sehr gut, der FCB kann Nachwuchs gebrauchen.» Kein Jahr zuvor ist Rotblau Meister geworden – und als ob es so Vorsehung gewesen wäre, wird er es erst wieder, da Marco Streller seine Premiere bei den Profis des FC Basel hinter sich hat.
Ungewohnte Position
Immer am Leder, startet die Karriere im organisierten Fussball bereits mit fünf. Nicht bei einem grossen Club und nicht im Sturm. Sondern beim FC Aesch?… im Tor. «Bei den Pampers wollte niemand zwischen die Pfosten – mir machte das nichts aus.»
Das Flair für die Goalie-Position bekommt Marco Streller in die Wiege gelegt – das Talent als Fussballer nicht unbedingt: Vater Thomas war lange Jahre Torhüter, allerdings auf bescheidenem Niveau, im Firmensport, beim SC Promena. Höher hinaus ging es nicht. Und weil Verletzungen dazukamen, wurde Streller senior Schiedsrichter, wo er Drittliga pfiff und in der Zweitliga als Linienrichter assistierte.
Gleichzeitig war Thomas Streller auch F-Junioren-Trainer des Sohnes. Diesen zieht es bald aufs Feld, weil er Tore schiessen will. Und Tore, die schiesst er: «Im F schlugen wir alle – bis wir Ende Saison nach Wallbach gingen», sagt der FCB-Stürmer. Er erinnert sich: «Der Ref pfiff barfuss, es stach ihn eine Biene, er schrie auf.» Streller und Co. erschrecken derart, dass sie das Spielen vergessen – schon steht es 0:1. Und weil es dabei bleibt, werden in der Kabine bittere Tränen vergossen. «Das war die erste grosse Niederlage meines Lebens.»
Heiliger Rasen
Marco Streller sitzt im Garten seiner Kinderjahre, mitten auf der Boccia-Bahn, die von seinen Eltern längst zum Spielplatz für die Enkel Elin und Sean umfunktioniert worden ist. Früher war hier alles Rasen. «DER Rasen.» Streller spricht wie von einem Heiligtum «Hier habe ich als Kind stundenlang dem Ball nachgejagt.» Meist mit den Cousins Pascal und Roman Girod, wobei es stets verbissen zur Sache ging.
Die Fläche ist nicht gross. Und sie wurde mit zunehmendem Alter immer kleiner. Doch vielleicht ist sie ein Grund, warum aus Marco Streller trotz seiner Grösse jener technisch überdurchschnittliche Stürmer wurde, der er ist. Doch nicht nur hier wurde gekickt, sondern auch im Haus. Ruth Streller sagt: «Ich konnte alle Bälle wegräumen – irgendwo fand Marco immer wieder einen, mit dem er mich nerven konnte.»
Tollen heute die eigenen Kinder in Arlesheim mit dem Ball durch die Stube, dann dauert es nicht lange, bis Desirée Streller schimpft. Marco Streller hingegen lässt das Treiben laufen. «Ich war doch auch so», sagt er dann zu seiner Frau, die nur den Kopf schüttelt. Mami ist dann wieder die Böse, Papi der Liebe.
Hypochondrische Züge
Aber Mami ist eben auch die Starke. Jedenfalls sagt das Marco Streller, wenn er über seine Frau spricht. «Ich kann auch stark sein, aber in vielen Dingen bin ich ängstlich.» Er sei ein Papi, der besorgt unter dem Klettergerüst stehe. «Fehlt einem Kind etwas, bin ich rasch durch den Wind.» Geht es um die eigene Gesundheit, ist Streller nicht anders. Als kleiner Junge mit der Atemweg-Krankheit «Pseudokrupp» kämpfend, trägt sein Verhalten als Erwachsener zuweilen hypochondrische Züge. Sowohl im Freundes- als auch im Mannschaftskreis heisst es: Hat Streller einen Schnupfen, wählt er mitten in der Nacht die Nummer seines Leibarztes.
Mutter Ruth weiss, von wem ihr Sohn diese Seite geerbt hat. Wie Marco, so steigt auch sie nicht gerne ins Flugzeug, hat schon Reisen sausen lassen. Dass sie sich oft sorgt und dies an ihren Sohn weitergegeben hat, könnte auch damit zu tun haben, dass Marco das einzige Kind ist, ein zweites der Familie Streller nicht vergönnt war. «Er ist für mich bis heute mein Schätzeli. Ich bin noch immer geschockt, wenn Marco auf dem Rasen liegen bleibt. Wir haben ihn erzogen, aber ich habe ihn bestimmt auch behütet.»
König von Basel ist Marco Streller geworden. Daheim, da ist er immer der König gewesen. Genossen hat er das nicht nur: «Ich hätte gerne Geschwister gehabt, das beschäftigte mich als Kind», sagt er. Eine eigene Familie war später «das grösste Ziel in meinem Leben». Aber genauso klar war stets, dass es mindestens zwei Kinder sein müssten.
Von seiner Mutter hat Marco Streller neben der Ängstlichkeit auch das sonnige Gemüt. Vom Vater dafür die Körpergrösse. Den Redefluss und den Humor. Und auch das Sitzleder: Zwar bezeichnen sich beide Elternteile gegenseitig als gesellig – aber Ruth Streller zeigt schliesslich doch auf ihren Mann Thomas, den «Waldwaggis», wenn es darum geht, von wem Sohn Marco die Gene des Lebemanns hat.
Als Kind ist Marco Streller noch kein Lebemann – und weniger ängstlich. Da gibt es mal ein Loch im Kopf. Und später Schürfungen, mit dem Töffli. Streller ist zappelig und ungeschickt: «Ruhig sein fiel mir schwer. Wie meine Kinder, so konnte auch ich kaum normal spazieren. Ich musste hasten, rennen.»
Entsprechend aktiv war Streller in der Schule – allerdings nicht unbedingt in jenen Dingen, die in der Schule zählen. «Ich war schon ein bisschen der Klassenclown. Das Mundwerk war immer gut; ich glaube sowieso, ich habe geredet, bevor ich laufen konnte.»
Daran kann sich Hans Matter so nicht erinnern. Strellers Lehrer von der dritten bis zur fünften Primarschule spricht von einem unauffälligen Schüler, der in seiner damaligen Klasse nicht zu den Wildesten gehörte. «Auffällig war er im Turnunterricht, als Fussballer. Und unter den Klassenkameraden konnte er schon den Ton angeben. Aber er lehnte sich nie gegen mich auf. Ich fand schon damals, er sei gut erzogen.»
Schwierige Fremdsprachen
Als Schüler ist Marco Streller weder gut noch schlecht. Er geht gerne hin, doch die Highlights finden auf dem Pausenplatz statt, wenn auf dem Teer der Ball im Mittelpunkt steht. Jedenfalls so lange, bis ihn die Mädchen zu interessieren beginnen. Strellers Passion für anderes als den Schulstoff hindert ihn aber nicht daran, erst in der Primar-, dann in der Sekundarschule schlank über die Runden zu kommen.
«Was mich interessierte, hatte ich im Griff. Zum Beispiel Mathematik, später auch Geografie.» Was ihn weniger fesselt, verursacht auch mal «Abschiffer». Als Sek-Schüler sind das vor allem die Fremdsprachen, Französisch und Englisch. «In meiner Zeit als Profi habe ich diese Sprachen automatisch viel besser gelernt als damals in der Schule.»
Die Ausbildung zum Fussballer schreitet jedenfalls erfolgreicher voran als jene zum Dolmetscher. Streller ist auf dem Kleinfeld richtig talentiert. Thomas Streller erinnert sich: «Da konnte er noch von der Mittellinie abdrücken und das Leder ins Tor hauen.»
Harter Trainer
Es folgt die Begegnung mit dem vielleicht wichtigsten Trainer in Marco Strellers Karriere: Werner Mogg, der inzwischen beim FC Basel die U16 leitet und als Koryphäe gilt. Von den D- bis zu den B-Junioren ist er der Coach eines Buben, den er rückblickend als «nicht nur einfach» bezeichnet.
In Moggs Erinnerung wurde Streller vom einen Tag auf den anderen vom Buben zum Teenager. «Eben war er noch der Jüngste, Brave – plötzlich der Motzer, dem man es oft nicht recht machen konnte.» Und wer gerne motzt, dem gibt Mogg Anlass dazu, denn der Ruf des harten Ausbildners, den begleitet den Trainer bereits da. Mogg ist ein Fussball-Verrückter, der die Anspielzeit einer Partie nach hinten schiebt, in der Meinung, Marco Streller könne es dann einrichten – am Tag der Konfirmation.
Unvergessen ist für Mogg, wie er Streller einmal auswechselte. «Marco war schon damals im Eishockey Fribourg-Fan – mein Club ist der SC Bern. Beide waren Titelanwärter. Und als er rauskam, da lief er hinter mir durch und rief erzürnt: Sie haben mich nur gewechselt, weil ich Fribourg-Fan bin!»
Auf Stufe der Inter-C-Junioren spielt Streller auch erstmals mit jenem Burschen zusammen, mit dem er sich später beim FCB in einem Zweimann-Sturm fast blind versteht: Alex Frei. In der gemeinsamen Premiere besiegt der Dorfclub Aesch den FC Zürich mit 7:0. Bekanntschaft mit seinem späteren Freund hat Streller aber schon vorher gemacht: Als er bei den E-Junioren in einer Saison 89 Tore erzielt hat und Frei über den Weg läuft, deckelt ihn dieser in der ihm eigenen Alex-Frei-Manier: «Schiess erst mal 120 Tore!» Es ist jener Wert, den der Biel-Benkemer eine Altersklasse höher gerade erreicht hat.
Streller spielt unter Mogg meist am linken Flügel, hängend. Ein paar Mal sogar als Aussenverteidiger. Er ist gut, aber er stösst zuweilen auch an Grenzen. Das liegt vor allem daran, dass er als einer der Jüngsten den Gegnern körperlich oft nicht Paroli bieten kann. Er ist zwar da schon gross für sein Alter. Aber auch spindeldürr. Und die Gegenspieler, die sind auch so gross und in der körperlichen Entwicklung weiter.
Die Ausbildung, die Streller unter Werner Mogg geniesst, ist hochwertig. Doch das wird sich erst später zeigen. In jenen Jahren muss Streller beissen, lernt dabei auch zu kämpfen. Als er dann in der Pubertät steckt und einen zusätzlichen Wachstumsschub erfährt, ist der Fussball dann plötzlich nicht mehr ganz so wichtig wie noch zuvor. Er verpasst es, von den B-Junioren vorzeitig in die erste Mannschaft nachgezogen zu werden. Und weil parallel dazu beim FC Arlesheim gerade ein paar Kumpels spielen, beschliesst er, vom grösseren zum kleineren Club in der Nachbargemeinde zu wechseln. Er beginnt eine KV-Lehre bei der Bank Sarasin. Von einer Profikarriere scheint Marco Streller als 16-Jähriger so weit entfernt wie ein Pinguin vom Nordpol.
«Manchmal werde ich von Eltern talentierter Kinder gefragt, was sie machen müssten, damit aus ihrem Sprössling eines Tages ein Fussball-Profi wird», sagt Thomas Streller und legt eine Pause ein. Dann grinst er und fügt an: «Meine Antwort lautet: Fragt jemand anderen – ich habe keine Ahnung. Wir haben Marco einfach Fussball spielen lassen. So halt, wie Tausende andere Kinder Fussball spielen.»