Presseschau

Basler Zeitung vom 05.06.2015

Abschiedsjahre: Ein Meister des Rasens wird zum Lehrling des Lebens

Mit dem Abpfiff des Cupfinals folgt für Marco Streller am Sonntag der Anpfiff in eine Welt mit vielen Unbekannten – es ist der Schlusspunkt einer Entwicklung, die vor zweieinhalb Jahren begann

Von Oliver Gut

Basel. Marco Streller weiss seit einigen Tagen nicht mehr recht, was er fühlt. Ist es Vorfreude? Ist es Wehmut? Stolz? Angst? Wahrscheinlich von allem ein bisschen. «Ich weiss nur: Mir ist mulmig, alles fühlt sich seltsam an. Ich bin froh, wenn das Ganze vorbei ist.»

Der Captain des FC Basel sitzt mit dem eben gewonnenen Meisterkübel auf den leeren Tribünen des St.-Jakob-Parks. Die Mission ist mit dem sechsten Titel in Folge erfüllt. Er ist verabschiedet worden. Und doch ist da noch ein letztes Spiel in diesem Stadion. Noch einmal wird Marco Streller die Mannschaft aufs Feld führen, um einen Pokal zu gewinnen. Am Sonntag ist Cupfinal, der FCB trifft auf den FC Sion. Es ist eine besondere Affiche: Der Klassenprimus vom Rhein versucht den Cup-Mythos von der Rhone zu besiegen.Zwölf Mal standen die Walliser im Endspiel – zwölf Mal nahmen sie danach die silberne Trophäe mit nach Hause.

Wermelinger hat recht

Marco Streller mag das Wallis. Er geht im Winter regelmässig mit der Familie nach Grächen in die Skiferien. Auch im Dezember ist er dort gewesen. Dort hat für ihn langsam Gestalt angenommen, was nun Tatsache wird: «Wie hast du gemerkt, dass es der richtige Zeitpunkt ist, um aufzuhören?», fragt er in der Gondel Daniel Wermelinger. Streller ist mit dem ehemaligen Spitzen-Referee befreundet, der freiwillig zurückgetreten ist. Wermelinger sagt nur: «Du weisst es, wenn es so weit ist.»

Es ist nicht die Antwort, die sich Marco Streller erhofft hat. Er ist kein geduldiger Mensch. Auf etwas zu warten, bis es passiert, ist seine Sache nicht. Erst im November hat der Captain des FC Basel seinen Vertrag bis 2016 verlängert. «Ich hatte das Gefühl, dass es stimmt – aber zu 100 Prozent überzeugt war ich nicht.» Im Januar im FCB-Trainingslager in Marbella hat er viel Zeit. Er skypt oft mit seiner Frau, seinen Kindern. «Dabei spürte ich, dass ich mehr denn je lieber bei ihnen wäre.»

Dann kommen die ersten Spiele. Kommt ein 2:4 in Bern, gegen die Young Boys. Streller hält danach eine kernige Rede, spricht von elf Versagern. Und dann, als er zwei Tage später aufwacht, ist plötzlich alles klar. «Ich höre auf.»

Wermelinger hat recht. Streller hat keine langen Gespräche geführt. Sondern hat es gespürt. Danach redet er mit seiner Frau, den Eltern, den Freunden. Er will ihre Meinung noch hören – doch der Entschluss des sonst so Wankelmütigen ist bereits unumstösslich.

Als der FC Basel dann am 5. März mitteilt, dass seine Ikone den Rasen per Saisonende verlassen wird, ist dies der angekündigte Schlusspunkt eines Prozesses, der nicht erst in der Gondel in Grächen eingesetzt hat. Schon viel länger hat Marco Streller sich mit dem Thema beschäftigt. «Als Alex Frei seinen Rücktritt beschlossen hatte, da kamen bei mir die ersten Gedanken.»

Frei gibt ein Beispiel

Es ist November 2012. Streller ist 31. In der Folge erlebt er, wie sein Freund nicht den erhofften Abschied erfährt. Trainer ist seit Oktober Murat Yakin, das Traum-Duo im Sturm ist Geschichte. Spielt Frei, dann am linken Flügel. Und auch die Gespräche über eine Zukunft im Club laufen nicht so, wie sich das der Schweizer Rekordtorschütze vorstellt. Als dann der FC Luzern einen Sportdirektor sucht, ist Alex Frei innerhalb eines Monats weg, gibt mitten in der Saison sein Abschiedsspiel. Die Meisterfeier findet ohne ihn statt.

Marco Streller beginnt zwei Dinge zu begreifen. Nachdem im Sommer mit Benjamin Huggel bereits der erste des einstigen Führungs-Triumvirats aufgehört hat, merkt er nun, dass die Spieler immer weniger werden, die ihm nahe- stehen. Er realisiert, dass er einer Generation angehört, deren Zeit ab­läuft. Einer Generation auch, die anders tickt, als es das Gros jener Profis tut, die er anführt. Und er weiss auch, dass er anders gehen will als Frei. Als er sich nach der Rücktrittsankündigung den Medien stellt, spricht er zwei Sätze, die lange gereift sind: «Es ist besser, wenn die Leute noch bedauern, dass man aufhört, als wenn sie froh darüber sind.» Und: «Ich habe immer gesagt, dass ich durch die grosse Türe abtreten will.»

Federer ist der Erste

Die Türe ist riesig, durch die er geht. Es ist der 29. Mai 2015. Marco Strellers letztes offizielles Heimspiel. Neun Tage vor dem Cupfinal steht die vorgezogene Verabschiedung im Stadion an. Die Partie gegen St.?Gallen ist Beilage. Der goldene Kübel, den der Captain am Schluss entgegennimmt, ist für einmal nur das i-Tüpfelchen. Die Stadt ist wegen Marco Streller im St.-Jakob-Park.

Auf dem Rasen reihen sich Präsidium, Spieler, Staff und Angestellte des FC Basel auf. In den vordersten Rängen sitzen 40 Menschen, die Marco Streller ganz nahestehen. Sogar seine 99-jährige Grossmutter Berta Girod ist extra ins Joggeli gekommen. Zum ersten Mal. Seine besten Freunde tragen blonde Perücken. Jeder hat sich ein Trikot eines Clubs übergezogen, bei dem Streller spielte – selbst der FC Aesch und der FC Arlesheim sind vertreten.

Marco Streller steht in der Kabine. Ganz allein. Er ist nicht freudig erregt, sondern brutal nervös. «Ich ging auf und ab. Es waren die vielleicht längsten fünf Minuten meines Lebens.» Als er dann in den Kabinengang tritt, wird er um ein Autogramm gebeten. Vor einem normalen Spiel würde er es geben – nun hat er dafür überhaupt keinen Nerv.

Aus den Lautsprecher-Boxen dröhnt «Alles ­verdient». Es ist der sechste und letzte Meistertrack der Basler Rap-Combo TripleNine. Gewidmet allein dem scheidenden Captain, der sich nun auf den Rasen kämpft. Die Emotionen lähmen beinahe, die Augen sind schon feucht. Die früheren Mitspieler Granit Xhaka, Alex Frei, Yann Sommer, ­Valentin ­Stocker und Benjamin Huggel überreichen Präsente. Roger Federer lädt via Videoleinwand nach Wimbledon ein. Der Tennis-Weltstar aus Münchenstein war der Erste, der den FCB-Verantwortlichen zusagte, dass er komme, falls er nicht mehr am French Open engagiert wäre.

Es ist ein königliches Adieu für die rotblaue Galionsfigur. Garniert durch Strellers Jubiläums­tor, als die Partie dann läuft. In der 17. Minute erzielt er das 1:0 – es ist sein 200. Treffer als Profi.

Yakin lädt zur Prüfung

Dass die durchschrittene Türe so gross ist, liegt auch daran, dass Streller in jener Zeit, in der er über das Aufhören zu sinnieren beginnt, eine neue Erfahrung macht. «Geht es anderen schlecht, leidet Marco unglaublich mit», weiss FCB-Sportdirektor Georg Heitz. Streller leidet im Frühjahr 2013 erst mit Alex Frei. Und als dieser weg ist, beginnt er mit seiner Mannschaft zu leiden. Das Verhältnis zu Trainer Murat Yakin war schon vorher nicht prächtig – vom Sommer an verschlechtert es sich spürbar.

Doch anders als früher, als Streller meist der Erste war, der aus der Spur geriet, wenn etwas im Argen lag, besteht er nun seine schwerste Prüfung. Der Captain hält die Mannschaft zusammen, bemüht sich immer wieder, zwischen ihr und dem Trainer zu vermitteln. Aber er setzt auch Zeichen.

Schon immer ein miserabler Schauspieler, sagt er im Oktober 2013 nach einem 1:1 in der Champions League in Bukarest nur die Wahrheit. Er ist beim Stand von 1:0 ausgewechselt worden, danach kassiert der FCB den Ausgleich. Yakin behauptet dann vor den Medien, sein Anführer habe rausgewollt. Von den Journalisten damit konfrontiert, stellt Streller fest, dass er keineswegs rauswollte. Würde er die Beziehung zwischen Trainer und Team als intakt einstufen, er würde wohl lügen. Weil er es nicht tut, schwappen die Störungen zwischen Yakin und der Mannschaft endgültig an die mediale Oberfläche.

Es folgen äusserst unruhige Monate. Doch der Mannschaft hilft dieses Signal wie die folgenden, die vom Präsidium gesendet werden. Weil sie spürt, dass es nicht ewig so weitergeht. Die Geschichte endet nicht mit einem Knall, sondern mit einem weiteren Goldkübel und der logischen Trennung vom Trainer.

Zum fünften Titel in Serie steuert Marco Streller zehn Tore bei – weniger waren es seit seiner Rückkehr nur in der Spielzeit 2008/09, die das Ende der Ära Christian Gross bedeutete. Und doch hat er mehr Anteil an diesem Titel als an allen anderen. Nie in den Jahren zuvor ist ein Captain des FC Basel in seinem Amt so gefordert worden, wenn es darum ging, die Balance zu halten.

Er spürt dabei nur zu gut, wie die Last auf seinen Schultern immer schwerer wird. Im gleichen Masse, wie er zu jener Überfigur heranwächst, als die er nun in die rotblaue Ahnengalerie einzieht, nimmt der Druck stetig zu. Auch das hat Einfluss, da er sich intensiv mit dem Rücktritt auseinandersetzt.

Was es bedeutet, Marco Streller zu sein, hat er in den vergangenen Wochen noch einmal intensiv erfahren. Er hat gewusst, dass er im Mittelpunkt stehen wird. Der Hype aber, wie er ihn nun wahrnimmt, ist ihm ein bisschen peinlich. «So sehr mich die grosse Wertschätzung berührt: Gegenüber meinen Mitspielern habe ich ein schlechtes Gewissen, dass sie zu wenig Anerkennung für den Meistertitel erhalten.»

Es ist dies typisch Marco Streller. Im Prinzip wird er gern gefeiert – aber nur so lange, wie er das Gefühl hat, dass das für jeden stimmt. Schliesslich will er von allen geliebt werden. Inzwischen hat er eine Überdosis von sich selbst.

«Ich bin froh, wenn das Ganze vorbei ist.» Von seiner Mannschaft verabschieden will sich Streller im Anschluss an den Cupfinal – unabhängig, wie dieser endet. Es bleibt dann noch Zeit, um seine Zukunft beim FC Basel endgültig zu regeln. Die Gespräche sind grösstenteils geführt, es ist zu erwarten, dass er bei Rotblau so etwas wie eine Lehre absolviert, in diverse Bereiche Einblick erhält. Auch, weil er selbst nicht weiss, wo er sich sieht. Daneben wird er mit Freund Flurin Lutz die F-Junioren des FC Arlesheim be­treuen, wo Sohn Sean spielt. Und womöglich bei den Senioren des SC Dornach mitkicken.

Als Erstes wird er aber mit seiner Familie eineinhalb Monate verreisen. Am 20. Juni geht es nach Florida. Es ist ein erster Schritt in ein Leben, in dem Marco Streller nicht mehr Meister, sondern vielmehr Lehrling ist. Nur schon, dass er sechs Wochen lang ununterbrochen mit Frau und Kindern zusammen ist, wird ungewohnt sein. Erst recht gilt das, wenn ab September der neue Alltag einkehrt. Marco Streller freut sich auf die Zeit danach. «Aber ich habe auch Respekt vor den vielen Unbekannten.»

Marti misst den Blutdruck

Vorher, da wird er noch einmal in der Kabine sitzen. Wird dem bekennenden Hypochonder von Club- und Vertrauensarzt Felix Marti noch einmal der Puls und der Blutdruck gemessen. Und wird Marco Streller für die letzten 90 Minuten Profifussball erst richtig bereit sein, wenn der Doc sagt: «Alles bestens, Marco.» Oder für die letzten 120 Minuten. «Ich würde danach sogar einen Elfmeter schiessen», sagt er in Anspielung an den berühmten Penalty an der WM 2006. «Wobei?… Wenn ich ganz ehrlich bin, dann bin ich mir nicht sicher, ob es noch für 120 Minuten reicht.»

Am 18. Juni wird Marco Streller 34. Er steht in der Mitte des Lebens – und ist ein alter Fussballer, kurz vor dem Ende.

Streller geht vom Feld

Der Captain greift sich den Meisterkübel, den er fürs Foto mitgebracht hat. Dann schlendert er gedankenversunken über das Spielfeld im St.-Jakob-Park. Es ist der Rasen, der ihm die Welt bedeutet hat und am Sonntag zum letzten Mal seine Bühne sein wird. Er zeigt hinunter zum Strafraum: «Auf jenem Quadratmeter traf ich gegen Manchester United.» Dann rüber zur Muttenzer Kurve: «Dort gegen Liverpool?… Ich weiss ganz genau, wo ich in den Ball grätschte.» Am Mittelkreis hält er inne. Blickt hinauf in die leeren Ränge. «Es war mir eine Ehre, für diesen Club zu spielen.»

Marco Streller geht vom Feld. Seine Silhouette verschwimmt im Spielertunnel. Wird eins mit dem Pokal. Und verschwindet schliesslich ganz.

Was bleibt, ist die Erinnerung.

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