Basler Zeitung vom 17.11.2015
Der ehemalige FCB-Meistercoach Murat Yakin blickt auf seine Zeit in Russland und erklärt den perfekten Trainer
Von Marcel Rohr
BaZ:
Murat Yakin, was tun Sie im Moment?
Murat Yakin:
Ich geniesse die fussballlose Zeit, im Vordergrund steht dabei meine Familie, meine Frau und meine Tochter. Ich erledige zu Hause Pendenzen oder treffe mich spontan mit Freunden. Meinen 40. Geburtstag Mitte September 2014 beging ich in Moskau, da hatte ich keine Zeit für eine Feier. Die Distanz zum Fussball tut mir gut, ich habe ein lehrreiches Jahr in Russland hinter mir.
Mussten Sie Ihre Gedanken neu ordnen und zuerst zur Ruhe kommen?
Ja, es geht sogar noch weiter: Ich habe die Möglichkeit genutzt, um die letzten zehn Jahre zu verarbeiten. Erinnern Sie sich: Kaum hatte ich 2006 meine Aktivkarriere beendet, hatte ich die Chance, beim FC Concordia als Trainer einzusteigen. Dann ging es Schlag auf Schlag: GC, Frauenfeld, Thun, Luzern, Basel, Spartak Moskau. In den letzten Jahren hatte ich praktisch jeden dritten Tag ein Spiel. Immer Anspannung, immer Konzentration – da kommt man nicht richtig zur Ruhe. Deshalb ist es gut, einmal alles sacken zu lassen.
Haben Sie sich in einem Schweizer Stadion blicken lassen?
Ich kann es an einer Hand abzählen. Einmal traf ich in Zürich per Zufall Kim Källström, der bei mir in Moskau gespielt hatte, bevor er zu GC wechselte. Seinetwegen ging ich dann mal an einen Match im Letzigrund. Dazu habe ich Giorgio Contini in Vaduz und meinen Bruder Hakan in der Zentralschweiz besucht, was ich mit einem Spiel in Luzern verband. Und ich war in Biel bei Patrick Rahmen.
Haben Sie viele Angebote bekommen im letzten Halbjahr?
Ich bin nicht der Typ Trainer, der überall erzählt, wie viele Angebote er hat und wo er überall schon abgesagt hat. Wenn ein Verein kommt, der denkt, ich sei der richtige Trainer, lasse ich gerne mit mir reden. Momentan geniesse ich die Freizeit.
Wenn Sie zurückschauen – was war bei Spartak Moskau das Spezielle?
Zuerst hatte ich Befürchtungen wegen der Sprache. Doch das war kein Problem, praktisch alle konnten Englisch, überdies hatten wir einen Dolmetscher. An den gewaltigen Verkehr in Moskau gewöhnt man sich, doch wir übernachteten eh auf der clubeigenen Trainingsanlage, wo wir uns intensiv um Training, Taktik und alles Weitere kümmerten. Eine Fahrt ins Stadtzentrum, wo ich zwei Monate lang ein Apartment für meine Familie gemietet hatte, dauerte eineinhalb Stunden. In eindrucksvoller Erinnerung geblieben ist mir eine öffentliche Trauerfeier im Oktober 2014 für Fjodor Tscherenkow, einen der grossen Spartak-Spieler. 15 000 Menschen kamen, alle trugen Rot-weiss, die Farben des Clubs. Da spürte man den Mythos dieses riesigen Vereins, die Herzlichkeit.
Sportlich dagegen war es schwierig …
Der Start war sehr gut, obwohl wir wegen des Stadionbaus die ersten sechs Ligaspiele auswärts austragen mussten. Auffallend war, dass die einheimischen Spieler in der russischen Presse sehr schnell hochgejubelt wurden. Im Club waren zu diesem Zeitpunkt die Strukturen nicht eindeutig, und in der Winterpause zeichnete sich immer mehr ab, dass der Präsident nach 13 Jahren Amtszeit zurücktreten wollte. Nach der Absetzung des Generaldirektors wusste ich, dass die Zeit für einen Neuanfang gekommen war.
Hätten Sie unter anderen Umständen noch ein Jahr angehängt?
Ja, ich denke schon. Mir hat es sehr gefallen in Russland, das Jahr verging rasend schnell.
Wie Ihre ganze Trainerkarriere. Aufstieg mit Thun, Cupfinal mit Luzern, danach kamen Sie nach Basel, gingen nach Moskau …
… jetzt will ich es aber genau hören: Was haben Sie gesagt? Aufstieg mit Thun, Cupfinal in Luzern, und mit Basel …
Sie haben mit dem FCB zwei Meistertitel gewonnen, Entschuldigung.
… Danke! Nur damit es nicht vergessen geht (lacht).
War das Tempo zwischendurch nicht einfach zu hoch?
Ich sehe Parallelen zu meiner Zeit als Spieler. Ich ging von Congeli zu GC – nach fünf Matches war ich Stammspieler. Als ich 2006 meine Karriere beendete, hatte ich 24 Stunden Zeit, zu überlegen, ob ich bei Concordia auf die Trainerbank will. Ich wusste: Habe ich Erfolg, kann ich nicht einfach eine Auszeit nehmen.
Und wie war das im Sommer 2014, nach Ihrem Abgang beim FC Basel als Trainer, waren Sie da müde, ausgelaugt?
Nein, gar nicht, obwohl die Zeit sehr intensiv war. Es war so spannend, jeden dritten Tag ein Spiel zu haben. Der Fussball fasziniert mich jeden Tag aufs Neue. Und beim FCB hielt mich alles auf Trab: Ich hatte 20 Nationalspieler im Kader, darunter Typen wie Geoffroy Serey Die, Giovanni Sio oder Raul Bobadilla, die nicht immer einfach zu führen waren.
Wo haben Sie als Trainer am meisten gelernt?
Das kann ich so nicht sagen. Jeder Club stand an einem anderen Punkt, als ich kam.
In Thun hatten Sie am wenigsten medialen Druck …
Medialen Druck hat man als Yakin immer.
In Luzern …
… da wissen die Verantwortlichen im Club wohl heute noch nicht, warum sie mich freigestellt haben. Sportlich haben wir beim FCL das Maximum herausgeholt, den Sieg im Cupfinal gegen den FC Basel 2012 hat uns leider der Schiedsrichter vermasselt.
Also, Murat Yakin: Charakterisieren Sie mir doch bitte mal den guten, erfolgreichen Fussballtrainer!
(Überlegt lange. Sehr lange. Dann schaut er zum Fenster hinaus und zeigt mit dem Finger auf die Strasse.) Schauen Sie mal, dort unten steht Arthur Cohn.
Tatsächlich.
Ein feiner Mensch. Er schickt meiner Mutter Emine immer Blumen zum Geburtstag oder schickt uns Bücher und Kalender. Arthur Cohn hat Stil, das mag ich. Aber zurück zu Ihrer Frage …
… nach dem perfekten Trainer …
Also, das werde ich nun zum ersten Mal gefragt (überlegt wieder). Zum Glück habe ich etwas Zeit gewonnen, weil ich Arthur Cohn gesehen habe …Also: Ein guter Trainer ist authentisch und er hat eine klare Linie.
Auf und neben dem Platz?
Zielen Sie jetzt auf meine Arbeit beim FC Basel ab?
Nein, überhaupt nicht!
Ich formuliere es mal so: Wenn eine Mannschaft Höchstleistungen bringen soll, muss eine Anspannung da sein. Anspannung erreicht man aber nur, wenn der Gegenpol da ist, die Entspannung. Es braucht beides. In der gläsernen Welt des Fussballs wird die Entspannung aber sehr oft falsch interpretiert, dann heisst es sofort: Der Trainer ist zu locker, er arbeitet nicht mit den Spielern und geht lieber auf den Golfplatz. Nun sind wir wieder bei der Authentizität – ich will mich als Trainer niemals verstellen. Und ich will konsequent sein.
Ich empfinde einen anderen Punkt als matchentscheidend: Die Spieler müssen für ihren Trainer durchs Feuer gehen.
Natürlich, das sehe ich auch so. Das Gespür zu haben, welcher Spieler bereit ist, den Weg mitzugehen. Wer passt zu wem? Bei der Zusammenstellung einer Mannschaft vertraue ich immer meinem Bauchgefühl. Und gefällte Entscheide müssen schnell umgesetzt werden.
Haben Sie ein Vorbild?
Im taktischen Bereich stelle ich Pep Guardiola über alle anderen. Die Taktik geniesst bei mir einen sehr hohen Stellenwert. Als FCB-Trainer habe ich mir sehr oft morgens um sieben Uhr am TV ein Spiel nochmals ganz angesehen – das war wie Medizin. Ich liebe es, den Gegner zu sezieren, die Schwachstellen zu entdecken.
Das war ja auch eine Ihrer Stärken beim FC Basel …
Am liebsten wäre ich immer auf der Tribüne gesessen. Dort hätte ich den besseren Überblick gehabt als unten auf dem Rasen, aber das ging nicht. Ein anderer Faktor: Ein Trainer braucht auch manchmal etwas Glück. Das hatte ich beim FCB zum Beispiel mit Mohamed Salah.
Wie meinen Sie das?
«Momo» hat in vielen Spielen den Unterschied ausgemacht. Wer mutige Entscheide trifft und die richtigen Gedanken dazu hat, erzwingt das Glück.
Glück allein reicht nicht. Sie verfügen über einen hervorragenden Instinkt im Fussball. Aber Sie können Ihre Gedanken, Ihre Intuition der Mannschaft nicht immer punktgenau vermitteln. Das war beim FCB ein Problempunkt.
Da muss ich Ihnen recht geben, das haben Sie auch in der BaZ so geschrieben. Womit wir wieder beim perfekten Trainer wären. Er muss authentisch sein, konsequent, eine Linie haben, schnelle Entscheidungen treffen, die Taktik beherrschen, Glück haben: Da kommt schon was zusammen, finden Sie nicht? Und wenn mich ein Spieler nicht richtig versteht oder verstehen will, heisst es: Yakin bekommt es nicht in den Griff. Schauen Sie sich mal die aktuelle Mannschaft des FC Basel an.
Was meinen Sie damit?
Die FCB-Ausgabe 15/16 ist ziemlich sicher einfacher zu führen als das Kader, das ich hatte. Deshalb habe ich im Joggeli ja auch so viel gelernt, wofür ich dankbar bin. Wenn ich nur an die Auseinandersetzungen mit Alex Frei oder Philipp Degen denke (lacht)!
Sie wissen nun, was es heisst, FCB-Trainer zu sein, oder?
Natürlich. Wir haben in der Champions League zweimal den FC Chelsea geschlagen, trotzdem gab es Diskussionen um meinen Führungsstil. Deshalb sage ich: Ein Trainer muss auch kritik- und lernfähig sein. Das darf ich aber im Gegenzug auch von einem Spieler erwarten, sonst redet man als Coach in der Kabine an eine Wand.
Waren Sie lieber Spieler oder doch lieber Trainer?
Es dauerte eine Weile, bis ich akzeptiert hatte, dass ich nicht mehr spielen kann. Mittlerweile habe ich ja bei den Senioren der AS Timau mein Comeback gefeiert. Auf Profiebene kann ich mir nichts mehr anderes vorstellen als den Trainerjob. Als Spieler jedoch hatte ich früher eindeutig mehr Einfluss als heute als Trainer.
Macht es Spass bei Timau?
Es ist grossartig. Das Einlaufen besteht aus zweimal Schuhe binden, so viel reden wir in der Kabine.
Ihr Bruder Hakan spielt auch mit.
Ja, nun ist er wieder am Knie operiert worden und fällt leider aus.
Mit welchen Gefühlen verfolgen Sie denn heute noch ein Spiel des FC Basel? Wehmut, Enttäuschung, Stolz?
Das rotblaue Unternehmen läuft weiter, es funktioniert auch mit anderen Trainern, weil der Club so gut aufgestellt ist. Ich freue mich, wenn der FCB gewinnt. Wie gesagt: Ich habe sehr viel gelernt, ich habe bestimmt auch Fehler gemacht; Kritik, die ich heute gerne annehme. Schade war nur das Verpassen der Champions League gegen Maccabi Tel Aviv.
Wie beurteilen Sie das Niveau der aktuellen FCB-Ausgabe?
Es liegt nicht in meiner Kompetenz, das zu beurteilen. Fakt ist, der FC Basel als Gesamtkonstrukt weiss sehr genau, wen und wie viel es braucht, um weiterhin Erfolg zu haben.