Presseschau

Tages-Anzeiger vom 13.12.2017

Die junge Ultra-Welle

Die Fankurve des FC Zürich erlebt eine neue Gewalteskalation. Grund ist ein Generationenwechsel – die Muttenzerkurve hat ihn bereits hinter sich.

Von Rafaela Roth und Florian Raz

Leimbach Zürich, Schulsporthalle. Die alte Holzverkleidung dämpft den Widerhall der Sportschuhe, die auf dem Gummiboden quietschen. Rund ein Dutzend Männer der Grasshoppers-Fangruppierung Blue White Bulldogs trainieren Kampfsport – wie jeden Montagabend. Um halb neun wird das Training jäh unterbrochen, eine Scheibe klirrt. Zwei Dutzend Vermummte dringen in die Halle ein. «OCS fickt euch», ruft einer, dann fliegen Beine und Fäuste. OCS? Outcast Society, eine Fangruppierung des FC Zürich. Wenige Minuten später ist der Spuk vorbei. Zurück bleiben zehn Verletzte. In den Garderoben fehlen persönliche Gegenstände der GC-Fans, Hausschlüssel, Handys. Auf einem Stromkasten unweit der Sporthalle prangt eine frische Sprayerei: «SüDKuRVE!» Beim «R» zerläuft die Farbe.

Was Zürich momentan erlebt, kennt man ähnlich auch in anderen Städten. Eine Fangeneration löst die nächste ab, die Fankurven geraten aus dem Gleichgewicht. Kleine Provokationen und Gegenreaktionen erzeugen eine Welle der Gewalt, die in der Öffentlichkeit erst wahrgenommen wird, wenn sie den Höhepunkt erreicht. Dann rufen alle nach Massnahmen.

Niemand weiss, was zu tun ist

Nach den jüngsten Vorfällen haben die GC- und die FCZ-Führung bei einer vom Zürcher Polizeivorsteher Richard Wolff einberufenen Sitzung auch die Schaffung eines neuen Expertengremiums beschlossen. Es soll Vorschläge zur Verhinderung der Gewalt erarbeiten. Seine Zusammensetzung wollte man noch dieses Jahr bekannt geben. Dann kam der Vorfall in der Turnhalle, ein möglicher Vergeltungsschlag – ein Graffito, das an einen an Krankheit verstorbenen Fan der FCZ-Südkurve erinnerte, wurde übersprayt: «Die Schwachen nimmts.»

Obwohl die wenigsten Mitglieder der Fankurven gewalttätig sind, ist ihr Effekt gross. Und niemand weiss, was zu tun ist. Nicht die Polizei, nicht die Sicherheitsdienste, nicht die Clubs, nicht die Kurven. Das liegt auch daran, dass jegliche Kontrolle oder Bevormundung dem Wesen der Szene zutiefst widerspricht, die seit rund zwanzig Jahren den Puls in den Schweizer Stadien vorgibt. Es war eine junge, manchmal wilde, aber auch kreative Bewegung, die um das Jahr 2000 die Kurven eroberte. Sie nannten sich Ultras und verdrängten die bislang dominierenden, politisch weit rechts stehenden Hooligans, für die Gewalt eine Lebensphilosophie war.

Die heutige Südkurve des FCZ und die Muttenzerkurve des FC Basel waren Vorreiter der damals neuen Kultur, die sich an den Kurven in italienischen Stadien orientierte: ausdauernde Gesänge, Choreografien und lodernde Seenotfackeln. Die neuen Jungen wurden zu Beginn noch belächelt, sogar in den eigenen Kurven bedroht. Als sich die ersten Ultras in der Basler Szene inszenierten, hängten die alten Anführer ein Spruchband auf: «Kindergarten Muttenzerkurve.» Doch der Kindergarten sollte gewinnen – und das schweizweit. Die neuen Fans waren besser organisiert als die alte Szene. Sie öffneten die Kurven und zogen junge Menschen aus allen Schichten an. Die Fankurve war plötzlich ein Ort, um vor den herrschenden Normen zu fliehen.

Regeln, aber selbst definiert

Thomas Gander, jahrelang Fanarbeiter in Basel, hat die Basler Muttenzerkurve immer wieder als «grösstes Jugendzentrum der Stadt» bezeichnet. Einer aus der Berner Kurve sagt: «Wir sind Jugendliche, die sich nicht dem Mainstream unterordnen. Wir loten Grenzen aus, die uns die Gesellschaft vorgibt. Und wir definieren selbst Regeln, über die wir nicht verhandeln.»

Es gehört zur Ambivalenz der Szene, dass Gewalt bei diesen Regeln nicht unbedingt dazugehören muss – aber dazugehören kann. Das führt zu Konflikten mit Clubs und Polizei. Doch je mehr sich der Druck auf die Ultras verstärkt, umso mehr schotten sie sich von der Öffentlichkeit ab. Im Film «Sektor D» über Berner Ultras sitzen vier Jungs auf den Stufen ihrer Kurve und regen sich über «völlig falsche Medienberichte» über sie auf. Dann erzählt einer, ein Journalist habe angefragt, wie die Kurvenlieder entstünden: «Aber das geit se nüüt ah», sagt er. Es wirkt wie die Definition von Jugend. Man will verstanden werden – aber sicher nichts erklären müssen.

«Schande von Basel»

Und doch sind die Ultras erwachsener geworden in den letzten Jahren. Das hat nicht zuletzt mit einem der erschreckendsten Abende des Schweizer Fussballs zu tun. Es ist der 13. Mai 2006, als der FCZ in Basel in der 93. Minute Meister wird. In diesem Moment brechen beim Basler Anhang alle Dämme. Vermummte stürmen auf den Rasen, toben, suchen einen Schuldigen, an dem sie ihre Wut ablassen können. Der Zürcher Siegtorschütze Iulian Filipescu muss in Strassenkampfmanier zwei Angreifer abwehren. Fackeln fliegen aufs Spielfeld, Tränengas steht über dem Rasen, Gummischrot hallt durch die Nacht. Der Schrecken wird live auf SRF in die Schweizer Stuben gesendet. Die Medien schreiben von der «Schande von Basel».

Es war nicht allein die Niederlage, die zu diesem Ausbruch führte. Er war die Folge eines Kleinkriegs der Muttenzerkurve mit dem FCB. Auf jede Provokation der Fans hatte die Clubführung mit mehr Repression reagiert. Umgekehrt hatte die Kurve nach jedem Verbot des Vereins noch mehr Mist gebaut.

Auf dem absoluten Tiefpunkt dieser Entwicklung wagte man die Kehrtwende: nicht mehr, sondern weniger Repression. Die neue Clubführung suchte den Dialog mit der Kurve, investierte in Fanarbeiter. Die Situation beruhigte sich. Viele in der Kurve begriffen, dass mehr Autonomie auch mehr Verantwortung mit sich bringt.

Inzwischen hat sich der «Basler Weg» auch in der Liga und somit schweizweit durchgesetzt. Mit messbarem Erfolg: Eine neue Studie der Uni Bern hat jetzt ergeben, dass die Gewalttaten markant gesunken sind, seit die Gästefans bei ihrer Ankunft im Stadion von weniger martialisch auftretendem Sicherheitspersonal empfangen werden.

Die Schweiz scheint einen besseren Umgang gefunden zu haben als Italien. Dort hat unter anderem staatliche Repression dazu geführt, dass der neue Ultra-Jahrgang nach 2005 viel gewalttätiger auftrat als der erste. Doch auch hierzulande wächst diese neue Fangeneration aus der Szene heraus. Viele der alten Pioniere stossen inzwischen Kinderwagen. Jüngere übernehmen.

Wie immer bei einem Generationenwechsel sorgt das für Unruhe und Unsicherheit. Wer neu ist, muss sich beweisen und darf nicht unter den Verdacht geraten, die wilde Seite der Kurve zu verraten zugunsten von zu viel Kooperation mit Clubs und Polizei.

«Fussballkurven sind ein Spiegel der Gesellschaft», sagt Extremismusund Gewaltexperte Samuel Althof. «Bei Jüngeren ist die Lust auf Gewalt und Action tendenziell noch grösser.» Der Umgang mit Kurven erfordere vor allem eines: ein grosses Feingefühl. Weder zu viel Druck noch zu viel Repression, immer im Rahmen des geltenden Gesetzes. «Selbstregulierung funktioniert», sagt Althoff weiter, «man kann aber nicht zu viel über sie einfordern.» Denn schlussendlich funktioniere sie nur, wenn die Kurve das Gefühl hat, dass sie auch tatsächlich selber regulieren kann. Dann endet eine Welle.

Bis die nächste Welle anrollt. Jede Fankurve muss immer wieder aufs Neue beweisen, ob und wie sehr sie bereit ist, Verantwortung zu übernehmen und sich selbst zu regulieren. Kann das die Zürcher Südkurve?

Ende Oktober. Das Hochrisikospiel FCZ gegen FCB im Letzigrund ist gerade abgepfiffen, die Dämmerung ist der Nacht gewichen. Im Bahnhof Altstetten steckt der FCB-Fanzug fest. Die meisten Lichter im Zug sind ausgegangen. Jemand hat die Notbremse gezogen. Es fliegen Steine gegen den Zug, einige Basler versuchen nach draussen zu gelangen. Polizisten in Vollmontur sichern das Gebiet. Später nimmt die Polizei einige FCZ-Fans fest. Sie sind zwischen 13 und 24 Jahre alt.

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