NZZ am Sonntag vom 13.09.2020
Der neue Basel-Trainer Ciriaco Sforza war von der grossen Fussballbühne verschwunden. Nun kehrt er zurück – und sagt, was ihn die Lebenserfahrung gelehrt hat: Um den heissen Brei herumreden sei für ihn vorbei. Interview: Flurin Clalüna, Stephan Ramming ?
NZZ am Sonntag: Ciriaco Sforza, wir haben gestaunt, als Sie Trainer des FC Basel geworden sind. Sie selber auch?
Ciriaco Sforza: Nein, ich habe mich gefreut, ich war stolz auf meine Arbeit und auf meine Mannschaft in Wil. Wenn der grösste Verein der Schweiz Interesse zeigt, darf man stolz sein.
Hätten Sie sich vor einem Jahr vorstellen können, dass Sie heute FCB-Trainer sind?
Ich habe mich bis zuletzt auf den FC Wil konzentriert. Vor einem Jahr dachte ich einzig daran, in Wil seriös und gut zu arbeiten. Und wenn man das tut, findet diese Arbeit automatisch anderswo Beachtung. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, mein Plan sei gewesen, für immer in Wil zu bleiben und dann als Trainer aufzuhören.
Wir dachten, Ihnen sei abseits des grossen Rampenlichts inzwischen wohler.
Mein Ziel war es immer, irgendwann wieder anzugreifen. Aber ich wusste, dass das langfristig nur geht, wenn ich auf einem sicheren Fundament stehe. Das habe ich in Wil aufgebaut. Dass ich mich in Wil wohl gefühlt habe, sieht man an der Leistung, die ich mit der Mannschaft erbracht habe. Ich wusste aber klar, dass der nächste Schritt kommen würde. Für immer in der Challenge League zu bleiben, war für mich kein Thema.
Weil Sie sich die Rückkehr in die Super League verdient haben?
Das müssen andere beurteilen. Dass der FCB von mir als Person und als Trainer überzeugt ist, zeigt, dass die Entwicklung, die ich in Wil angeschoben habe, positiv war. Sonst wäre der FCB nicht auf mich gekommen.
Ihr letztes Engagement in der Super League, damals bei den Grasshoppers, ist acht Jahre her. Sie waren lange weg.
In meinen Augen war ich nicht lange weg. Ich habe mir einfach eine Pause genommen und habe ein, zwei Schritte zurück gemacht, um wieder voranzukommen.
Was haben Sie in dieser Zeit über sich gelernt?
Ruhe zu bewahren. Keine Schnellschüsse zu machen. Und ich weiss, dass ich loyale Menschen um mich brauche. Ein Beispiel: Bei GC waren wir erfolgreich, aber dann kamen Turbulenzen, die ich so nie mehr erleben will.
Und was waren die Schnellschüsse? Die wenigen Monate beim FC Thun?
Thun war im Nachhinein ein Schnellschuss, ja. Aber im Umgang mit Menschen war es zum Teil ähnlich. Ich traf jemanden, fand, das sei ein guter Mensch, und merkte später, was eigentlich los ist. Da kam es zu Enttäuschungen. Daraus habe ich gelernt.
Sind Sie auch vor sich selber geflüchtet?
Nicht vor mir selber. Aber vielleicht davor, unangenehme Entscheidungen treffen zu müssen, die jemandem weh tun. Früher dachte ich immer: Das kann ich doch nicht machen, das könnte verletzend sein. Heute sage ich offen und ehrlich, was ich denke. Wenn ich mit Ihnen ein Problem habe, komme ich auf Sie zu, und wir reden. Vor ein paar Jahren wäre das noch nicht der Fall gewesen. Ich sage es ganz salopp: Um den heissen Brei herumreden ist für mich vorbei. Ich will klar und geradlinig sein.
Sie haben dem «Tages-Anzeiger» 2015 ein Interview gegeben, in dem Sie über Ihre Schwächen und psychischen Probleme sprachen ...
... das ist aber ziemlich lange her.
Aber es war ein bemerkenswertes Interview, weil man sich diese Offenheit ...
... gerade von mir nicht gewohnt war, ja. Ich musste bei mir anfangen, ich wollte mich verändern, weil ich gespürt habe, dass es so für mich nicht weitergeht.
Weil es Ihnen damals nicht gutgegangen ist.
Es war mir nicht mehr wohl, auch gesundheitlich nicht. Ich sagte mir: «Lieber Ciri, das musst du anpacken.» Du musst ehrlich und klar sein. Das habe ich gemacht. Das ist auch eine Charakterfrage. Ich bin tief in mich hinein. Und heute bin ich froh und glücklich.
Das heisst, man gewinnt Stärke, indem man über Schwächen spricht?
Wenn Sie mich fragen, sage ich: Ja.
Als Spieler waren Sie immer stark.
Mein Fokus war, auf dem Platz Erfolg zu haben. Ich habe mit 32 mein letztes Spiel gemacht. Seither ist viel mit mir passiert.
Der Wandel ist bemerkenswert.
Danke schön.
Wenn man an Sie als Spieler denkt ...
... aber diesen Ciriaco Sforza gibt es nicht mehr. Er hat sich weiterentwickelt.
Wie denkt der 50-jährige Sforza heute über den 32-jährigen Sforza?
Wenn ich der Trainer des 32-jährigen Sforza wäre, würde ich sagen: Der ist interessant, der hat Ecken und Kanten, aber man muss ihn menschlich anpacken.
Sie wurden mit 16 Jahren Profi bei GC und wurden dazu erzogen, keine Schwächen zuzulassen.
Das ist ein guter Punkt. Ich durfte keine Schwächen zulassen und habe das nicht gelernt. Andere haben mit 16 ihre Pubertätsphase. Ich kam sofort auf die Schiene, liefern und Erfolg haben zu müssen. Da geht etwas verloren. Im Alter zwischen 16 und 23 hat mir etwas gefehlt, was ein Jugendlicher normalerweise hat. Ich musste funktionieren.
Sie hatten grosse Erfolge als Spieler und verdienten gut. Aber Sie haben auch etwas verpasst. War das der Preis?
Ja, die menschlichen Erfahrungen in meiner Jugend mussten hintenanstehen.
Hilft Ihnen diese Erkenntnis heute als Trainer?
Dieser Punkt ist im Umgang mit jungen Spielern Gold wert. Ich kann sie anders abholen, weil ich sie besser verstehe. Ich will ihnen beibringen, dass es nicht nur um Sport geht, sondern auch um eine menschliche Entwicklung, die mir damals vielleicht etwas gefehlt hat. Ich durfte sie erst später lernen.
Hat ein solches Denken Platz im professionellen Fussball?
Es hat Platz, es muss Platz haben. Wenn Spieler Vertrauen und Geborgenheit spüren, haben sie Freude und werden besser. Das ist manchmal wichtiger als Taktik und Technik.
Wer war ein Trainer in Ihrer Karriere, der auf weiche Faktoren Wert gelegt hat?
Menschlich war es Otto Rehhagel. Man sagt, er sei alte Schule. Aber von ihm habe ich in dieser Hinsicht viel gelernt. Ihm gegenüber konnte ich mich öffnen. Andere schauten nur auf den Erfolg. Friss oder stirb.
Wir haben folgendes Bild von Ciriaco Sforza: Er ist ein Trainer, der das Spiel spürt, junge Spieler voranbringt, aber Defizite hat in der Kommunikation. Einverstanden?
Spüren Sie jetzt Defizite?
Nein. Aber wir sitzen hier und sprechen von Angesicht zu Angesicht. Wir meinen Defizite an Medienkonferenzen oder vor TV-Kameras.
Ich habe keine Mühe damit, dass meine Auftritte bewertet werden. Das ist Teil meines Jobs. Aber man sollte den Menschen kennen, den man bewertet. Der Respekt vor dem Menschen muss da sein. Ich habe gelernt, mit Fangfragen umzugehen.
Was meinen Sie mit Fangfragen?
Die versteckten Fragen. Fragen mit einem Hintergedanken. Wenn jemand mit mir tiefer gehen und Fragen besprechen und analysieren will, dann rede ich mit jedem. Ich bin klar und deutlich, nicht unsicher. Es gibt Leute, die haben mich in eine Schublade gesteckt. Soll ich mich darüber aufregen? Nein.
Im ersten Interview mit dem Klub-TV unterlief Ihnen ein Versprecher: Sie sagten «Turbulenten» statt Turbulenzen. Das ging viral, das Radio machte sich lustig. Stört Sie das?
Jedem ist schon ein Versprecher passiert.
Ihr Versprecher führte dazu, dass sich die Öffentlichkeit lustig macht über Sie.
Versprecher sind auch Ottmar Hitzfeld passiert oder Oliver Kahn. Bei mir wird ein Versprecher herausgepickt und dann so verbreitet. Ich bin der Meinung, dass sich Medien selbst disqualifizieren, wenn sie das hoch- und runterspielen. Das hat aus meiner Sicht mit fehlender Klasse zu tun.
Dann stört es Sie also doch?
Wenn es einmal passiert, lachen wir darüber. Kein Thema. Aber wenn es dauernd wiederholt wird, ist das für mich ein Zeichen fehlender Klasse.
Ist Ciriaco Sforza einfach so, wie er ist, und so wie er ist – so muss man ihn auch nehmen?
Ja. Ich verstelle mich doch nicht, ich rede so, wie ich das hier mache. Wenn Sie mich nicht verstehen, reden wir darüber, und ich versuche, mich zu erklären. Das musste ich auch lernen.
Werden Sie in Basel dazulernen dürfen?
Ich lerne immer dazu. Aber ich rede, wie es für mich stimmt und wie ich bin. Warum soll ich etwas ändern, wenn ich reden kann, wie ich will, und mich dabei pudelwohl fühle, und der Verein auch?
Auch, als Sie dem «Blick» in Wil bestätigten, neuer FCB-Trainer zu sein, bevor es der Verein selbst öffentlich machte?
Das war ein Fehler. Das habe ich dem Klub auch so gesagt. Und ich habe erklärt, wie es zustande gekommen ist.
Und wie ist es passiert?
Wir hatten ein Testspiel, danach musste ich sofort losfahren nach Basel. Der Journalist hat hinter meinem Auto gelauert. Ich war fast eingestiegen, da habe ich mich erwischen lassen. Dazu stehe ich. Ich muss nicht um den heissen Brei reden.
Was ist der FC Basel für Ciriaco Sforza?
Ein grosser, erfolgreicher Verein. Auch in der letzten Saison: Viertelfinal Europa League, Cup-Final, Dritter in der Meisterschaft.
Das Publikum ist trotzdem unzufrieden.
Intern spüre ich positive Energie. Seit dem ersten Tag ist es meine Aufgabe, gemeinsam mit den Spielern und dem Staff vorwärtszukommen und Ziele zu erreichen.
Der Präsident Bernhard Burgener sagte, der FCB soll Meister werden. Sagen Sie das auch?
Soll der Präsident sagen, Sechster sei das Ziel? Als Trainer sage ich, wir wollen immer gewinnen. Mit Power, Emotionen, frech. Das bedeutet, wir wollen an der Spitze mitspielen. Dann schauen wir, was herauskommt. So haben wir das auch intern besprochen.
Nach der Zeit bei GC sagten Sie, dass Sie nichts mehr zu tun haben wollen mit Klubpolitik. Wie blenden Sie aus, dass es zuletzt drunter und drüber ging im FC Basel?
Was war, ist Vergangenheit. Ich bin hier mit Freude und Energie. Wir wollen etwas Neues entwickeln, vorwärtsgehen. Ich kann und will nicht für andere Dinge den Kopf hinhalten, die in der Vergangenheit liegen und nicht in meinen Bereich fallen. Kabine, Training, Spiel. Mit allem anderen will ich nichts mehr zu tun haben.
Geht das ohne Sportchef?
Das interessiert mich nicht.
Dann sind Sie Ihr eigener Sportchef?
Ich bin Cheftrainer. Ich muss im Verwaltungsrat über jeden Spieler sagen können, wie ich ihn in meinem System sehe. Das ist im Moment richtig für mich.
Also haben Sie gesagt: «Gebt Ricky van Wolfswinkel einen neuen Vertrag», nachdem mit ihm zunächst nicht verlängert worden ist?
Ich wurde gefragt, wie ich Rickys Perspektiven sehe. Et voilà.