Presseschau

NZZ am Sonntag vom 04.12.2005

Christian Giménez' Sorgen am Ort der steten Unruhe

Der Fussballer gibt nicht nach. Wer ihn interviewen wolle, müsse 3000 Euro an die Unicef Argentinien überweisen, gibt Christian Giménez zu verstehen. Er überweise ebenfalls Geld, «weil es in Argentinien vielen nicht gut geht». Auf den Einwand, dass nicht die Unicef, sondern ein Prinzip den Deal verhindere, entgegnet er: «Das ist so, Basel ist vorbei.» Bevor Giménez das Gespräch beendet, fügt er an: «Es geht mir nicht so gut in Marseille.» Punkt. Ab jetzt würden die Worte kosten.

Christian Giménez ist 31-jährig, spielte früher für den FC Lugano (selig) und ab Juli 2001 für den FC Basel. Der Stürmer schoss viele Tore. Über 20 pro Spielzeit. Das sind exzellente Werte. Am Schluss soll er in Basel jährlich 600 000 Franken netto verdient haben. Oder noch mehr. «Ich vergesse nicht, wie viele wichtige Tore er für den Klub erzielt hat - auch in der Champions League», rühmt der FCB-Trainer Christian Gross. Im August 2005, unmittelbar vor dem Champions-League-Qualifikationsspiel in Bremen gegen Werder, ging für Giménez ein «Kindheitstraum» in Erfüllung, wie er den Transfer nach Marseille bezeichnete. Giménez verliess Basel wie seinerzeit den FC Lugano - durch die Hintertür und vor bedeutenden Qualifikationsspielen zur Champions League. Was vor vier Jahren für Lugano Schachtjor Donezk gewesen war, hiess nun für Basel Werder Bremen. Der Stürmer erzwang den abrupten Abgang, und Gross sprach von der «exzessivsten Form des Fussball-Business». Nachdem der Argentinier wiederholt mit Wechseln kokettiert hatte, wurde der Transfer zum nach wie vor beliebtesten Klub Frankreichs perfekt: Olympique Marseille.

Die OM-Zeit tickt anders

Aber am Mittelmeer sind für Giménez das Glück und die Wertschätzung - zumindest vorerst - entwichen. Denn in Marseille tickt die Fussballzeit anders. Olympique Marseille, kurz «OM» genannt, ist der Verein der Skandale, der Justizverfahren, der Wechsel, der steten Unruhe, der vielen Einflüsse, der Begeisterung und des Geldes. Das Budget beträgt offiziell 110 Millionen Franken, wofür der Mehrheitsaktionär Robert Louis-Dreyfus geradesteht. Oft kommen 50 000 ins Stade Vélodrome. Die Stimmung köchelt, ist südländisch, fanatisch, unberechenbar. In den Restaurants rund um das Stadion brüllen die Südfranzosen, wenn sie vor dem OM-Spiel an Bildschirmen verfolgen, wie Paris St-Germain Gegentore kassiert. Marseille gegen Paris, OM gegen PSG, Süden gegen Norden. OM kultiviert den Mythos. Allerdings: OM rennt seit über zehn Jahren - ähnlich wie PSG - vergeblich und in endloser Instabilität den Erfolgen hinterher.

Zuerst war Giménez in Marseille Stammspieler und schoss ein Tor. Dabei blieb es. Der Argentinier traf nicht mehr und rutschte aus dem Team. Im Heimspiel gegen Monaco (2:1) vor einer Woche nahm er abermals auf der Ersatzbank Platz und spielte nur die letzten 90 Sekunden. Am Donnerstag kam er im Uefa-Cup-Spiel in Sofia (0:1) nur zum Einsatz, weil Titulare wie Ribéry, Niang und Oruma pausierten. Die Äusserungen der Medienvertreter sind eine vorzeitige Aburteilung, die Umfrage ist vernichtend: «Nul» sei Giménez, ungeschickt, zu langsam. Einer stellt die Frage: «Kehrt er bald in die Schweiz zurück?» Die Klubführung sei nicht zufrieden mit Giménez, heisst es.

Das Spiel gegen Monaco ist vorbei. Im Bauch des Stadions tritt der Marseille-Präsident Pape Diouf vor die Medien. Im Gerangel werden Mikrofone hingestreckt. Die Fragen: Wird OM auf dem Markt aktiv? Holen Sie einen Stürmer? Oder zwei? Pape Diouf lächelt. OM prüfe immer Spielerdossiers und werde sich im offensiven Bereich verstärken. Pape Diouf weiss, worüber er spricht. Er betätigte sich früher als Spielervermittler, betreute Marcel Desailly und lotste den Stürmer Didier Drogba nach Marseille. Als Drogba 2004 für 55 Millionen Franken zu Chelsea transferiert wurde, war Pape Diouf nicht mehr Agent, sondern Marseille- Präsident. Wegen solcher Konstellationen schiessen die Gerüchte, wer wann wie viel kassiert, ins Kraut. Das sind die Geschichten à la OM.

Giménez ist nicht Drogba. Giménez wird nach dem Monaco-Spiel erst Thema, als nichts anderes mehr interessiert. Pape Diouf zündet eine Zigarette an. «Wir haben ihn verpflichtet, damit er Tore schiesst. Doch er reüssiert nicht. Marseille ist eine andere Welt als Basel.» Der Präsident will dies nicht als Absage verstanden wissen. Auch Vahid Halilhodzic habe in Nantes als Stürmer in den achtziger Jahren zuerst Probleme gehabt, «danach wurde er Torschützenkönig». Das ist eine tolle Geschichte, die 2005 aber wenig nützt.

Vom Instinkt geleitet

In Basel richtete Gross das Spiel auf Giménez aus. «Er braucht viele Bälle im Strafraum», sagt der FCB-Trainer. Der Argentinier ist kein Techniker und kein Sprinter, sondern der arbeitende Strafraumstürmer, der, vom Instinkt geleitet, am richtigen Ort steht. Dies fiel auch dem Marseille-Trainer Jean Fernandez auf, der früher in Sochaux und Metz gearbeitet und die Schweizer Liga nahe verfolgt hatte. Weil in Marseille der Erfolg ausblieb und der Stürmer in mehreren Anläufen die Effizienz vermissen liess, richtet Fernandez das Team defensiver aus - «auf Giménez' Kosten». Der Trainer sagt: «Giménez hat seine Verantwortung, ich habe meine.» Für Stürmer ist Marseille ein besonders schwieriger Boden, weil sie an den früheren Heroen Jean-Pierre Papin und Didier Drogba gemessen werden. «Die Stürmer werden von den Anhängern höher gehalten als Gott», sagt Fernandez, «aber die Stürmer fallen auch sehr tief, wenn sie nicht treffen.» Zuletzt habe sich das Publikum gegen Giménez gewandt, «die Stimmung wurde aggressiv, weshalb ich ihn aus der Schusslinie nahm». Giménez brauche Geduld, so der Trainer. Hat OM Geduld? Fernandez zuckt die Schultern und sagt: «Le problème - c'est ça.» Also: keine Geduld. Auch der Trainer spricht am Tag nach dem Spiel das Misstrauensvotum gegen Giménez aus: «Wir suchen einen Stürmer.»

OM wechselte im Sommer den Trainer und fast das ganze Team. Wie immer. Der Personalverschleiss ist rekordverdächtig. Giménez ist in Marseille materiell reicher geworden. «Die Südamerikaner kommen nach Europa und gehen meistens wieder in ihre Heimat zurück», sagt Gross, «sie haben wenige Jahre, um Geld auf die Seite zu legen.» Giménez hat ein Alter, in dem sich nicht mehr viele Fussballtüren öffnen. Marseille ist ein hohes Risiko. Dass Giménez für ein Gespräch Geld für die Unicef verlangt, provoziert Gross' Unverständnis. Die Mimik des Coaches lässt Schlüsse zu: Da stimmt etwas nicht (mehr). Peter B. Birrer

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