Presseschau

SI Sport vom 19.07.2019

Gesegneter Frühstarter

Mit acht Monaten macht er seine ersten Schritte, mit zwei Jahren fährt er Velo. Noch nicht volljährig, debütiert NOAH OKAFOR mit dem FC Basel in der Super League. Der Baselbieter mit nigerianischen Wurzeln kann nicht nur Kicken, sondern auch Kopfrechnen.

Text: Sarah van Berkel Fotos: Flavio Leone

ER STEHT NICHT GERN IM REGEN. Denn die zerrissene Jeans, der orange leuchtende Pulli der Marke Louis Vuitton und das Balmain-T-Shirt sollen nicht nass werden. «Es sind die einzigen normalen Kleider, die ich für zehn Tage dabeihabe», sagt Fussballspieler Noah Okafor fast entschuldigend. Sein Style, ergänzt mit weissen Sneakers und goldenem Armkettchen, erfüllt das Klischee, was Fussballer lieben: extravagante und teure Accessoires und Kleider. Sein Outfit kostet fast so viel, wie der durchschnittliche Arbeitnehmer in Nigeria, dem Heimatland seines Vaters, verdient – pro Jahr. Noah Okafor hat geschafft, wovon viele träumen.

Im Trainingslager mit dem FC Basel am bayerischen Tegernsee arbeitet er weiter konsequent an seinem Aufstieg. Täglich heisst das: schlafen, essen, trainieren, Physio, Sitzungen. Und wieder von vorn. Nicht der typische Alltag eines Teenagers. Doch der wahr gewordene Profi-Traum des 19-jährigen Stürmers. «Irgendwie ging alles ziemlich schnell.» Vergangenes Jahr debütiert er in der Super League, diesen Juni gelingt ihm der Sprung in die Schweizer Nationalmannschaft. Zudem schnellt sein Marktwert in die Höhe – auf 8 Millionen Euro. Damit ist er der zurzeit wertvollste Spieler der Super League.

Schon als kleines Kind ist Okafor ein Schnell- und Frühstarter. Bereits mit acht Monaten beginnt er zu laufen, als Zweijähriger fährt er Velo – ohne Stützräder. Mit acht Jahren weiss er: Ich will Fussball spielen. Er läuft zur Klubanlage in seiner Heimat Arisdorf BL und fragt den Trainer des Juniorenteams, ob er mitspielen darf. Komm wieder, wenn du Fussballschuhe und Schienbeinschoner hast, bekommt er zu hören. Er rennt nach Hause und fleht seinen Vater an, mit ihm ins nächste Sportgeschäft zu fahren. Eine knappe Stunde später steht Noah wieder auf dem Rasen in Arisdorf – mit nigelnagelneuer Ausrüstung. Und darf mitspielen. Bald schiesst er das Team von Sieg zu Sieg, ein halbes Jahr später ist er dem Niveau des Dorfvereins bereits entwachsen. Er wechselt zum grossen FC Basel. Zur U9-Mannschaft.

OKAFOR IST 15 JAHRE ALT, als er eine wegweisende Entscheidung zugunsten des Sports trifft. Er zieht von zu Hause aus und wird im FCB-Wohnhaus in unmittelbarer Nähe des Joggeli einquartiert. Dort kann die Nachwuchshoffnung besser gefördert werden. Obwohl sein neues Daheim nur 15 Autominuten vom alten entfernt ist, bereitet ihm die Umstellung anfangs Mühe. «Haushaltsarbeiten wie waschen lernte ich schnell, doch es war komisch, meine Familie nicht mehr ständig um mich zu haben», sagt Okafor, der mittlerweile wieder bei seiner Familie in Arisdorf wohnt.

Sein Fokus gilt stets dem Fussball. Dennoch ist ihm die Ausbildung wichtig. Die Lehre bei einem Sportartikelverkäufer schliesst er erfolgreich ab. Seine Lieblingsfächer? Mathe und Geografie. In der Schule entdeckt er abseits des Fussballplatzes eine besondere Begabung: Das Kopfrechnen. Die Probe aufs Exempel meistert Okafor mit Bravour, auch wenn er sich nur widerwillig testen lässt. Keine zwei Sekunden dauert es, bis er die Rechnung 17x25 richtig gelöst hat. 425.

Die Karriere Okafors verläuft stetig und steil. Doch eine schwierige Phase hat er als 15-Jähriger zu überstehen. Er leidet an Wachstumsstörungen und einer Schambeinentzündung, kann über sechs Monate lang nicht spielen. Für einen Teenager eine halbe Ewigkeit. «Das hat mich frustriert.» Doch Okafor kämpft sich zurück. Im vergangenen Jahr hebt seine Karriere ab. Seit Anfang 2018 gehört der linke Flügel zu Basels 1. Mannschaft. «Er hat grosses Potenzial, das sieht man sofort. Er ist schnell und stark im Dribbling», sagt FC-Basel-Coach Marcel Koller. Im vergangenen Jahr habe Okafor nochmals eine grosse Entwicklung durchgemacht. «Er hat mental Fortschritte gemacht, gelernt, was es heisst, in jedem Spiel mit voller Intensität und Konzentration zu spielen.» Seit diesem Jahr arbeitet Okafor zusätzlich mit einem Mentaltrainer. Aufpassen müsse der Youngster jedoch, dass er sich genügend Ruhe gönne, sagt Koller: «Die jungen Spieler haben so viel Energie, ihnen ist oft nicht bewusst, dass sie dennoch genügend Erholung brauchen.» Mit dem Wechsel der Handynummer tut Okafor einen Schritt in diese Richtung, als ihm der Rummel zu gross wird.

Am 9. Juni gelingt dem Millennial mit dem ersten Einsatz für die Schweizer Nati der nächste Schritt. «Ich war nervös, hatte Gänsehaut. Doch die Freude war stärker als die Anspannung.» Seine Wortwahl ist bestimmt, doch seine Stimme sanft. Im Kontrast zu seiner imposanten Statur – 1,85 Zentimeter, 85 Kilo – wirkt er schüchtern.

Dass Okafor für die Schweiz aufläuft, ist nicht selbstverständlich. Der schweizerischnigerianische Doppelbürger wird auch vom Heimatland des Vaters umworben. Für den Spieler ist die Entscheidung schnell klar: Er ist in der Schweiz geboren und aufgewachsen, Deutsch ist seine Muttersprache. «Hier sind meine Wurzeln.» Doch auch zu seiner zweiten Heimat pflegt er Kontakte. Die Familie besitzt im westafrikanischen Land ein Haus, Noah war dreimal dort, das letzte Mal 2010. Zudem schreibt und telefoniert er wöchentlich mit seinen Verwandten. Vom Vater, der früher in Nigeria Fussball spielte und als 17-Jähriger auswanderte, geniesst Noah eine «strenge, direkte Erziehung mit vielen Regeln».

Trotz klaren Grenzen unterstützen Christian und Nicole Okafor ihre Kinder – Noah hat zwei jüngere Brüder sowie eine ältere Schwester – stets darin, ihre Träume zu verwirklichen. Die Mutter gibt ihren Job als selbstständige Werberin auf, um zu waschen, zu kochen, die Kinder ins Training zu fahren. Elijah, 15, und Isaiah, 13, folgen dem grossen Bruder in den Fussball. Beide spielen heute in der Juniorenabteilung des FC Basel, die Schwester studiert Biochemie. «Ich bin meinen Eltern sehr dankbar für alles», sagt Noah Arinzechukwu Okafor, dessen zweiter Vorname «von Gott gesegnet» bedeutet. «Ich bete für sie und dafür, dass es mir weiterhin so gut läuft.»

Bezogen auf seine sportliche Zukunft heisst das für den Spieler mit den Vorbildern Neymar, Ronaldo und Messi: «Ich will Schritt für Schritt gehen. Gesund bleiben, Schweizer Meister werden und mit der Nati bei der nächsten EM dabei sein.» Er sagts – und stellt sich nun doch nach draussen ans Seeufer. Mittlerweile hat es aufgehört zu regnen.

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