Presseschau

Basler Zeitung vom 05.08.2021

Eine Geschichte, die man gar nicht glauben kann

Ein Traditionsverein in einer Abwärtsspirale und Fans, die gegen ihren Präsidenten auf die Strasse gehen. Die Geschichte von Ujpest Budapest klingt irgendwie vertraut.

Tilman Pauls, Budapest

Dies ist die Geschichte eines Fussballclubs, dessen treueste Anhänger vor lauter Sorge und Verzweiflung, Wut und Ohnmacht auf die Strasse gehen. Es ist die Geschichte eines Clubs, der sich unter der Führung seines Besitzers so weit von der Basis entfernt hat, dass die eigenen Fans die Heimspiele boykottieren. Es ist die Geschichte eines Clubs, der sich seit Jahren in einer Abwärtsspirale befindet, immer weiter nach unten kreiselt, der sportlichen Bedeutungslosigkeit entgegen.

Dies ist die Geschichte von Ujpest Budapest. Ujpest - das muss man wissen, um die Geschichte zu verstehen - ist nicht irgendein Name in Ungarn. 1885 gegründet, der älteste noch existierende Verein des Landes, viel Tradition. Seit 1912 durchgehend in der höchsten Liga vertreten, über hundert Jahre. Zwanzig Meistertitel, siebenmal in Folge in den goldenen Siebzigern, dazu elf Pokalsiege. Aber wie das halt so ist: Auch der älteste Verein kann mal in Not geraten.

19. Oktober 2011, das ist das Datum, an dem sich für Ujpest so ziemlich alles ändert. Der Club hat finanzielle Probleme, wie viele andere Vereine auch, doch aus Belgien kommt die Rettung: Roderick Duchâtelet übernimmt 95 Prozent der Clubanteile. Den Fans wird kein Konzept präsentiert, wie das ja an manchen Orten durchaus gemacht wird, sie haben auch keine Chance, über die Pläne des neuen Besitzers abzustimmen. Vom einen Tag auf den anderen befindet sich Ujpest in den Händen der Familie Duchâtelet.

Leitungs- statt Mineralwasser, um Kosten zu sparen
Duchâtelet, der Name ist inzwischen bekannt im europäischen Fussball, nicht nur in Budapest. 2004 übernimmt Roland Duchâtelet, der steinreiche Vater von Roderick, den Sint-Truidense V.V. Da ahnt noch niemand was. Einige Jahre später kommt noch Standard Lüttich hinzu. Weil aber eine Person nicht zwei Fussballclubs in einer Liga besitzen darf, bekommt halt Duchâtelets Frau Sint-Truiden. Bleibt ja in der Familie. Duchâtelet besitzt Fussballclubs wie andere Autos, für ihn ist das wahrscheinlich so was wie ein Hobby. Oder ein Investment. Man weiss es nicht so ganz genau.

Seine Zeit in Lüttich endet 2015, kurz zuvor dringen frustrierte Fans in das Büro des Besitzers ein und wünschen ihm alles Böse. Im Internet gibt es ein Video davon. Bei Sint-Truiden ist zwei Jahre später Schluss. Zwischendurch gehören ihm der AD Alcorcón in Spanien und Charlton Athletic in England. Aktuell ist er Gesellschafter bei Carl Zeiss Jena und stopft dort die Löcher mit seinem Geld.

Überall ist Duchâtelet umstritten - um es mal höflich auszudrücken. Überall senkt er die Kosten so scharf und so drastisch, dass die Fans ihren Club kaum noch wiedererkennen. Es geht hier nicht um ausbleibenden Erfolg oder schlechte Transfers, nein, es geht weit darüber hinaus. Bei Charlton werden die Spieler eines Tages angehalten, doch bitte Leitungs- statt Mineralwasser zu trinken. Auch die Arbeitsstunden der Putzkräfte werden gekürzt, um noch ein paar Pfund zu sparen. Der Sender Sport 1 nennt Duchâtelet mal den «meistgehassten Investor Europas».

In Ujpest ist die Situation unter Duchâtelet junior nicht anders. Es beginnt in der Saison 16/17 mit einer Transfersperre, weil beim Wechsel eines Spielers Unregelmässigkeiten bemerkt werden. Das ist schon anderen Clubs passiert, klar, nicht der Rede wert. Könnte man meinen. Aber es geht weiter mit Geschichten, die man gar nicht glauben kann, die einem nicht im Traum einfallen würden und auch nicht in einer Vision.

Vor einem internationalen Auswärtsspiel in Baku reist das Team einen Teil der Strecke mit dem Bus, das ist natürlich günstiger. Die Spieler müssen sich auch selbst um ihr Visum für die Einreise kümmern. Wenig überraschend bleiben zwei von ihnen am Zoll hängen, weil die entsprechenden Papiere nicht rechtzeitig angekommen sind. Ujpest verliert die Partie, wer hätte es gedacht?

Ujpest wird für die Spieler zu einer Durchgangsstation und für die Fans zu einem Club, mit dem man sich kaum noch identifizieren kann. Trotz all dem Chaos feiert man zwar noch Erfolge, das eine schliesst das andere ja nicht aus. 2014, 2018 und 2021 gewinnt Ujpest den ungarischen Pokal. Doch der kurzfristige Erfolg kann längst nicht mehr kitten, was die Entscheidungen des Besitzers angerichtet haben. Erst recht nicht das, was 2017 passiert.

Der Club gründet in einem Konflikt mit dem Stammverein ein eigenes Nachwuchsteam und das Logo. Das ist ja nicht einfach irgendwas. Wappen und Farben sind die Heiligtümer eines Vereins. In ihnen ist die Identität festgehalten, die DNA, Geschichte und Geschichten. All das wird den Fussballern von Ujpest vor vier Jahren einfach so genommen, sie spalten sich - für alle sichtbar - vom Basisverein ab. Inzwischen ist man zu einem halbgaren Kompromiss gekommen, auf der Website sieht man beide Logos nebeneinander. Alt und neu. Es sieht fast ein bisschen friedlich aus. Aber das ist es natürlich nicht.

Eine Geschichte, die es nicht nur in Budapest gibt
Vier Jahre ist das her, die Sache mit dem Logo, doch die Wunde ist noch frisch. Sie wird nie mehr verheilen. Die Ultras des Clubs gehen noch immer auf die Strasse, schreiben Plakate und wiederholen ihre Forderung so lange, bis es irgendwann vorbei ist. «Roderick, hau ab, und nimm dein Wappen gleich mit!», steht vor dem Heimspiel gegen Vaduz vor wenigen Tagen auf einem Spruchband. Ins Stadion gehen viele Fans schon länger nicht mehr, nur zu den Auswärtsspielen. Es ist ihre Form des Protests. Jetzt kommen nicht mal mehr 2000, wenn Ujpest im Ferenc-Szusza-Stadion spielt.

Immer wieder mal gibt es Gerüchte um einen Besitzerwechsel, um ein Ende der Zeit von Roderick Duchâtelet. Daraus ist bislang nichts geworden. Dafür stand Ujpest öfter mal vor dem Abstieg aus der Liga. Was würde das heissen für einen Club, der so lange oben mit dabei war? Nein, es kommt nicht mehr gut in der aktuellen Konstellation. Wie könnte es auch, wenn der Club mit den eigenen Fans im Streit liegt? Das hat noch nie funktioniert.

Dies ist die Geschichte eines Fussballclubs, dessen treueste Anhänger vor lauter Sorge und Verzweiflung auf die Strasse gehen, aus Wut und Ohnmacht Plakate bemalen oder Fackeln anzünden. Es ist die Geschichte eines Clubs, der sich unter der Führung seines neuen Besitzers so weit von der Basis entfernt hat, dass die eigenen Fans die Heimspiele boykottieren. Es ist die Geschichte eines Clubs, der sich seit Jahren in einer Abwärtsspirale befindet, immer weiter nach unten fällt, der sportlichen Bedeutungslosigkeit entgegen.

Doch diese Geschichte kann nicht nur einem Club wie Ujpest Budapest widerfahren.

Zurück 100748739562